Mein täglich‘ Brot kaufe ich woanders.
Wie Handwerksbäckereien ihre Versorgerrolle verloren und wie sie überleben

Mein täglich‘ Brot kaufe ich woanders.
Wie Handwerksbäckereien ihre Versorgerrolle verloren und wie sie überleben

Der Beitrag fragt nach dem in den Medien propagierten „Bäckersterben“. Er beschreibt am Fallbeispiel des Wiesbadener Westends den Strukturwandel des Bäckergewerbes: Die Versorgerrolle der Handwerksbäckereien wurde mehr und mehr von Supermärkten und Großfilialbäckereien übernommen. In den Infrastrukturen der Stadt nehmen Bäckereien heute neue Nischen ein, auch im Westend. Drei Texte, die fragen: Wo sind all die Bäckereien hin?

Lukas Blank

„Die letzten Jahre habe ich immer wieder gesagt, wir müssen gucken, dass wir ein Nischenbäcker sind“ (Interview S. Walser 2020). Siegfried Walser meint mit dem Begriff des Nischenbäckers ein Angebot, das Handwerksbäckereien wie seine eigene von der Backindustrie unterscheidet. Doch Bäckereien stellen schon an sich eine urbane Nische dar. Seit jeher nehmen sie eine funktionale Rolle bei der Versorgung einer Stadt ein (vgl. Toepfer 2011, 669). Brot ist wie Wasser ein Grundnahrungsmittel, somit zählen Bäckereien ähnlich wie das Trinkwassernetz zur Infrastruktur einer Stadt (vgl. Star 1999, 381). Bäckereien als Teil der städtischen Infrastruktur zu bezeichnen bedeutet einerseits, die Voraussetzungen des Backhandwerks zu benennen, also die Räume, die Geräte, wie etwa Öfen, sowie die Ausbildung, die es braucht, um täglich Brot zu backen. Andererseits verweist der Begriff der Infrastruktur auch auf die gesellschaftliche Rolle und Funktion, die Bäckereien in der sozialen Ordnung einer Stadt übernehmen. Bäckereien werden von der Stadt, die sie umgibt, geprägt und zugleich prägen sie die Stadt durch ihr Angebot. Infrastrukturen werden vor allem dann sichtbar, wenn sie nicht mehr funktionieren oder nicht mehr vorhanden sind (vgl. Star 1999, 382). So erklärt auch die Wechselbeziehung zwischen Bäckerei und Stadt den medialen Aufschrei, der das so plötzlich wirkende Verschwinden der Handwerksbäckereien begleitet (vgl. Wörrle 2019). In den Klagen über das Bäckersterben werden Stimmen laut, die die Bedeutung des Bäckerhandwerks für das soziale Gefüge einer Stadt erkennen lassen.

Vom Wiesbadener Westend zeichnen Adressbücher der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Bild, in dem sich gleich mehrere Bäckereien eine Straße teilten. Heute jedoch backen nur noch wenige Bäckereien dort. Schwindet die Grundversorgung? Und falls ja, warum sind die Bäckereien verschwunden? Was mussten die Bäcker, die heute noch vor Ort sind, für ihr Überleben leisten? Ist das Verschwinden der Bäckereien im Westend Teil eines größeren Trends? Drei Texte, „Auf den Spuren einer Bäckerei, die verschwand“, „Über eine Bäckerei, die blieb“ und „Über das Kommen und Gehen von Bäckereien im Westend“, erforschen im Nachfolgenden das Schwinden der urbanen Nische Bäckerei im Westend und fragen nach den Auswirkungen des „Bäckersterbens“ vor Ort.

Auf den Spuren einer Bäckerei, die verschwand
Das Bäckersterben ist eher als Strukturwandel im Backgewerbe zu bezeichnen (vgl. Beile, Drecher-Bonny & Maack 2009). Um diesem Wandel auf den Grund zu gehen, lohnt es sich nach einer Bäckerei zu suchen, die nicht mehr existiert. Dank einer Einsendung zu unserem Sammelaufruf [Link zum Sammelaufruf] aus der Blücherstraße 38 fand sich eine solche verschwundene Bäckerei. Eine Bewohnerin vermutete, dass es im Hinterhof „wo heute der Hausanbau ist, früher eine Bäckerei gegeben haben soll“ (Projekt Urbane Nischen, Mailverkehr Heuser a). Tatsächlich finden sich Belege, dass es bis 1963 eine Bäckerei in der Blücherstraße 38 gab (vgl. StadtA WI, Gewerbeabmeldung): Karl Kämpfer, ein aus Dörsdorf im Taunus zugezogener Bäcker (vgl. StadtA WI, Meldekarte), meldete dort 1933 sein Gewebe an (vgl. StadtA WI, Gewerbekartei). Weitere Recherchen zeigten, dass schon vorher im hiesigen Hinterhof gebacken wurde. Aus Wiesbadener Adressbüchern um 1910 geht hervor, dass schon kurz nach dem Bau des Hauses 1907 ein Bäcker namens A. Frenz hier ansässig war. Kämpfer betrieb zu dieser Zeit wahrscheinlich noch eine Bäckerei am Blücherplatz 2 (vgl. Adressbuch Wiesbaden 1910, 734).
Über Frenz ist wenig Weiteres bekannt und über Karl Kämpfer nur, dass ihm die Bäckerinnung Wiesbaden eine silberne Ehrennadel für 40-jährige Mitgliedschaft verlieh (vgl. Wiesbadener Kurier 1956). Außerdem bildete er in seiner Zeit in der Blücherstraße 38 nie einen Lehrling aus (vgl. BI Hessen, Lehrlingsrolle 1900–1963). In den letzten Jahren der Bäckerei muss Auguste Kämpfer, die Tochter Kämpfers, das Ladengeschäft ohne eigene Backwarenproduktion betrieben haben. Der damals bereits im Westend tätige Bäcker Siegfried Walser berichtet, dass er sie mit Mischbroten beliefert hatte. Nach seiner Aussage war die Bäckerei Kämpfer ein kleiner Ein-Mann-Betrieb, der keine Nachfolge fand, weil er zu sanierungsbedürftig war – wie viele dieser kleineren Bäckereien um diese Zeit (vgl. „Urbane Nischen“, S. Walser 2020). Am 1. März 1963 meldete der Steuerberater Georg Oehmich die Bäckerei Kämpfer stellvertretend ab. Ein handschriftlicher Nachtrag auf der Gewerbeabmeldung vom 3. April 1963 vermerkt: „Kein Nachfolger. Laden steht leer“ (StadtA WI, Gewerbeabmeldung). Die Bäckerei muss grundstücksübergreifend im Hinterhof der Blücherstraße 38 und der Blücherstraße 40 gelegen haben und wurde „vollständig abgerissen“ (Projekt Urbane Nische“, Mailverkehr Heuser b).

Abb. 2–4: Collage aus Archivmaterialien (Gewerbekartei, Gewerbeabmeldung, Lehrlingsrolle) zu dem Bäckermeister Karl Kämpfer (Quelle: Stadtarchiv Wiesbaden; Bäckerinnung Hessen)

Aus der Perspektive einer Bäckerei, die blieb[1]
Nachdem am Beispiel der Bäckerei Kämpfer exemplarisch gezeigt wurde, warum Bäckereien verschwinden – zu klein, modernisierungsbedürftig, keine Nachfolge – stellt sich die Frage, wie manche Bäckereien den Generationswechsel überlebten, sich wieder und wieder neu erfinden konnten. Um den stetigen Wandel einer Bäckerei möglichst bildlich darzustellen und nicht einfach nur nachzuerzählen, wird die Geschichte der Bäckerei Walser aus der Perspektive der Bäckerei selbst erzählt. Dabei fließen in die Erzählung Beobachtungen und Erinnerungen der Bäckermeister Siegfried und Dirk Walser ein.
Ich bin die Bäckerei Walser und wohne am längsten in der Gneisenaustraße 24 – ich habe auch noch ein paar andere Wohnorte über Wiesbaden verteilt, aber die sollen hier weniger eine Rolle spielen. Betrieben werde ich von Dirk und Manuela Walser, er backt nachts in meiner, auf halber Kellerhöhe liegenden, Backstube und sie verkauft die Brötchen, Brote und Kuchen dann tagsüber. Die beiden übernahmen mich am 1. Februar 1990, als der Vater und die Mutter von Herrn Walser in den Ruhestand gingen (vgl. Interview S. Walser 2020; Interview D. Walser 2020). Vor der Familie Walser haben hier noch zwei weitere Familien gebacken und Gebackenes verkauft. Somit habe ich zwei Vorgängerbäckereien. Die erste Bäckerei, die in der Gneisenaustraße 24 buk, war die Bäckerei Michel.

Abb. 5: Historische Fotographie der Bäckerei Michel in der Gneisenaustraße 24 (Foto: Walser Brot)

Karl Michel zog 1903 hier her, nachdem er in der Feldstraße 9/10 bereits eine Bäckerei betrieben hatte. Knapp 30 Jahre war er hier und übergab die Bäckerei um 1931 an die Familie Reichert, die von nun an, neben einer Bäckerei in der Hellmundstraße 44, auch die in der Gneisenaustraße 24 führte (vgl. Adressbuch Wiesbaden 1931, 651). Innerhalb der Familie Reichert muss es während der 30 Jahre, in denen sie die Bäckerei betrieben, einen Generationswechsel gegeben haben (vgl. Adressbuch Wiesbaden 1936/37, 640). Als die nächste Nachfolge Ende der 1950er, Anfang der 1960er-Jahre anstand, fehlte es an eigenen Kindern oder Verwandten:

„Dann hatten wir in unserem Betrieb einen Neffen vom Herrn Reichert, der war Geselle da und der sollte dann Meisterprüfung machen. Der sollte den Betrieb übernehmen. Kurz bevor die Meisterschule losging, hat er gekündigt und ist in eine Fabrik gegangen. […] Dann kam ein paar Wochen später wieder ein Neffe in den Betrieb. Der war Metzger und der war vier Wochen da. Dann ist der auch wieder abgehauen, dem hat das nicht gefallen und [der] ist ins Kloster gegangen“ (Interview S. Walser 2020).

Als sich Neffe für Neffe herausstellte, dass eine Nachfolge innerhalb der Familie nicht möglich war, fragte Herr Reichert meinen künftigen Besitzer: Siegfried Walser. Siegfried Walser war ein im November 1954 nach Wiesbaden gezogener Bäckersgeselle, der sich selbstständig machen wollte. Er hatte seine Ausbildung in einer Bäckerei namens Gottmann in Konstanz gemacht und landete dank einer Stellenausschreibung in Wiesbaden. Nachdem er seine übliche Gesellenzeit von fünf Jahren abgeschlossen hatte, besuchte er Abendkurse der Meisterschule in Wiesbaden und qualifizierte sich mit dem Erhalten seines Meisterbriefs zur Selbstständigkeit.[2] In dieser Zeit lernte Siegfried Walser auch seine spätere Frau in der Bäckerei Reichert kennen. Sie war eine aus Siegen zugezogene Bäckereifachverkäuferin und hatte auch „den Zug zur Selbständigkeit“ (Interview S. Walser 2020). 1962 übernahm das Ehepaar Walser dann das Geschäft und gründete mich: die Bäckerei Walser. „Ich habe die Backstube geschmissen und meine Frau den Laden“ (Interview S. Walser 2020), erzählte er letztens einem jungen Forscher erzählt.
In den ersten Jahren hatte ich noch einen „Deutschen Ofen“, der in die Außenwand zum Hinterhof gemauert war. Er stammte aus der Kriegszeit und die Bäcker beheizten ihn seitlich mit Briketts. Um die Herdplatte auf Backtemperatur zu halten, mussten sie nachts mehrmals eine drei Meter lange Flamme mit einer Gaskanone in den Ofen schießen. Das war natürlich viel Arbeit und schrecklich heiß, doch die Brote aus diesem „Deutschen Ofen“ haben fantastisch geschmeckt. Die Kunden sagten immer: „Zu Walser gehen wir Brot holen und zu dem anderen Bäcker gehen wir Brötchen holen“ (Interview S. Walser 2020). Damals belieferte ich, wie schon die Bäckerei Reichert, viele andere Bäckereien im Westend mit Brot – unter anderem mit Kommissbrot. Das mussten wir Bäckereien damals noch im Sortiment haben, doch die meisten wollten es nicht mehr backen.

Nachdem die Familie Walser und ich ein paar Jahre in der Gneisenaustraße 24 waren, forderte das Veterinäramt den Bau neuer Lichtschächte. Der Zeitpunkt kam für Siegfried Walser unpassend, da er kurz zuvor Anzahlungen für den Umbau meiner Backstube geleistete hatte. Außerdem war der Umbau seiner Ansicht nach Sache des Hausbesitzers, weshalb er das Gespräch mit Herrn Reichert suchte. Dieser wollte gar nicht mehr in das Haus investieren und nach einigem hin und her verkaufte er es an Siegfried Walser auf Rentenbasis. 1966 oder 1967 begannen dann die Bauarbeiten. Zuerst haben sie die Lichtschächte in die Mauern gebrochen. Ich habe damals eine große Fensterfront und drei kleinere weitere Fenster bekommen – in der Backstube und dem Ladengeschäft, das die Familie Walser gleich mit umbaute, wurde es sehr viel heller. Nicht viel später begannen die Arbeiten in der Backstube, für die ich vier Wochen geschlossen hatte. Ein paar Mieter von Herr Walser wetteten mit ihm, dass er den Abriss des alten und den Bau des neuen Ofens niemals in vier Wochen schaffen würde. Die zwei Kästen Bier, die sie dabei verloren haben, durften sie dann mit ihm im Hinterhof trinken. Während des Umbaus waren die Nachbarn:innen über den frühen Lärm nicht so begeistert und warfen sogar eines Morgens mit Messern nach Herrn Walser.
Die nächsten fünf Jahre beschreibt Herr Walser gerne als „knochenhart“ (Interview S. Walser 2020), doch ich fühlte mich mit neuem Etagenofen und neuer Wirkmaschine so frisch wie nie. Deutlich mehr backen konnte ich auch. Herr Walser suchte nach Lieferaufträgen und als der Bäckermeister Götz unerwartet verstarb, begannen wir für dessen Frau und ihre Bäckerei in der Mauergasse mit zu backen – die bekam teilweise 200(!) Brote am Tag. Wir belieferten sie bis zur Bäckerknappheit Mitte der 1970er-Jahre. Die Industrie boomte, Opel und der Industriepark Kalle vergrößerten sich und warben überall Arbeitskräfte ab. Die konnten besser bezahlen und bald musste die Familie Walser verzweifelt nach Bäckern suchen. Sie inserierten sogar an der deutsch-deutschen Grenze und warben Bäcker zurück, die einen Berufswechsel gemacht hatten. Einmal stellten sie einen gelernten Bäcker ein, der als Hausmeister eines Bürohauses gearbeitet hatte. Der war manchmal so betrunken, dass er sich, sobald er in meiner Backstube war, unter den Tisch schlafen legte. Das waren keine guten Jahre und die Familie Walser musste Liefergeschäfte, wie an Frau Götz, beenden. Geändert hat sich das erst als die Nachkriegsgeneration auf den Arbeitsmarkt kam. Anfang der 80er Jahre standen dann meistens zwei Gesellen und vier Lehrlinge vor dem Ofen. Die Familie Walser nahm wieder mehr Lieferaufträge an und eröffnete Verkaufsstände in den Vorkassenzonen von Tengelmann-Supermärkten.

Um dieselbe Zeit wollte der Sohn von Walsers Bäcker werden. Eine Lehre im eigenen Betrieb „taugt nichts“ (Interview S. Walser 2020), meinte Siegfried Walser und schickte ihn zu einem jungen Bäckermeister nach Dotzheim. Schäfers Backstuben hieß die Bäckerei. Nachdem Dirk Walser seine Ausbildung abgeschlossen und sein Wehrdienst geleistet hatte, begann er 1984 bei mir zu backen. Vater und Sohn arbeiteten von nun an Seite an Seite und nach seiner Gesellenzeit machte Dirk Walser seinen Meisterbrief in Olpe. Er hatte auch, genau wie sein Vater knapp 30 Jahre vorher, den Willen zur Selbstständigkeit und zum 1. Februar 1990 übernahm er mich mit seiner Frau. Ich hatte neue Besitzer:innen mit neuen Visionen.
Knapp zwei Monate nachdem mich die neue Generation Walser übernommen hatte, bauten sie mein Ladengeschäft aus. Ich bekam neue Fenster, aus der alten Wohnung von Walser Senior wurden meine neuen Sozialräume, Büros und Umkleiden. Ein Jahr später eröffnete sie meine erste Filiale in Sonnenberg und über die Jahre sollten einige dazu kommen, manche auch wieder gehen. Die Filialen mussten natürlich beliefert werden, weshalb ich neue Lieferwagen bekam. Die passten nur nicht mehr durch die Einfahrt in der Gneisenaustraße 24 und die Fahrer parkten sie dann vor dem Haus, wofür sie oft ein Knöllchen bekamen – in dieser Zeit hörte man Dirk Walser oft fluchen.
Im Jahr 2000 baute Dirk Walser dann neue Öfen und wir stellten komplett auf Gas um – Elektroöfen sind hier nicht möglich, weil die nötigen Leitungen gar nicht in der Gneisenaustraße liegen. Ähnlich geht es mir mit Elektroautos, die kann ich hier nicht laden. Mit neuen Öfen wurde ich in den frühen 2010er Jahren zur „SlowBaking Bäckerei“ zertifiziert. Das war ein Verein[3], der Bäckereien auszeichnete, die unter anderem mit einer langen Teigführung arbeiten. Solche Alleinstellungsmerkmale brauche ich heutzutage, denn der Ton unter den Bäcker:innen ist sehr viel rauer geworden:

„Ich sag mal so, ich sehe es nun nicht mehr so, dass die Industrie der Riesengegner ist. Es sind oft so die Kollegen selbst. […] Es ist ein Verdrängungswettbewerb am Markt […], dass die Rücksicht nehmen auf Kollegen, das ist nicht mehr der Fall“ (Interview D. Welser 2020).

Sogar der Buchhandlung gegenüber hat eine konkurrierende Bäckerei Geld geboten, um dort eine Filiale zu eröffnen. Dabei geht es ihr gar nicht um einen möglichen Profit in der neuen Filiale, sondern nur darum, mir meinen Standpunkt, meine Straße streitig zu machen. In solchen Momenten sehne ich mich immer in die Zeit zurück, in der Siegfried Walser noch nachts einen Anruf aus einer anderen Bäckerei bekam und dort kurz helfen ging – in die Zeit, in der noch mehrere Bäcker:innen auf einer Straße koexistieren konnten.
Viele Bäckereien haben sich in den letzten Jahren mit ihrem traditionellen Handwerk und einer langen Teigführung angepriesen und sind auf den Zug aufgesprungen – ob sie wirklich so arbeiten wie wir, weiß ich allerdings nicht. Ich musste jedenfalls nach einem neuen Alleinstellungsmerkmal suchen und die Familie Walser hat es in der Frische unserer Waren gefunden. Sie investierten in eine Vakuumanlage und bauten nochmals neue Öfen. In den nächsten Jahren will ich mich mit der Familie Walser wieder mehr auf das Kerngeschäft konzentrieren und vielleicht etwas kürzer treten. Während der fast 60 Jahre meiner Zeit im Westend habe ich so einige Bäckereien kommen und gehen gesehen und mich selbst immer weiterentwickelt. Heute bin ich eine Vollsortiment-Bäckerei mit mehreren Standorten, die ständig versucht, auf dem neusten Stand der Dinge zu bleiben, um nicht wie so viele anderen Bäckereien einfach vom Erdboden zu verschwinden.

Über das Kommen und Gehen von Bäckereien im Westend
Die beiden vorangegangenen Texte illustrieren, wie manche Bäckereien verschwanden und andere blieben. Betrachten wir den Wandel des Backgewerbes im Westend insgesamt, ist die Zahlen der Bäckereien zwischen 1900 und 2020 drastisch geschrumpft.

Als Bäckersterben portraitieren Medien einen Wandel der Versorgungsinfrastruktur, den man vielleicht aus Beschwerden über das Schließen der letzten Bäckereien im Dorf kennt. Dabei sterben die Bäckereien nicht wortwörtlich aus, weder im Westend noch sonst wo. Der Markt verdichtet sich lediglich. Es fällt nun mehr und mehr auf, da die Infrastruktur schwindet, an die man sich gewöhnt hatte. Erst mit ihrem Verschwinden bemerkt man, dass sie vorhanden war und die zuvor unsichtbare Arbeit wird sichtbar (vgl. Star 1999). Die Gründe für diesen Wandel sind schwer zu benennen. Städte sind nie „fertig“ und verändern sich stetig mit den zeit- und gesellschaftsspezifischen Anforderungen an eine Stadt.[4] Der Wandel städtischer Infrastrukturen folgt meist auf Verschiebungsprozesse, die selbst „Folge einer Vielzahl von mehr oder minder interdependenten Entwicklungen“ (Niewöhner 2014, 346) sind. Trotzdem möchte ich mit dem hier dargestellten Material versuchen, mehrere Gründe für den Wandel des Bäckergewerbes und das Schwinden der urbanen Nische Handwerksbäckerei für das Westend zu aufzudecken.
Mit dem starken Zuwachs der Wiesbadener Bevölkerung im Zuge der Industrialisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts (vgl. Amt für Statistik und Stadtforschung Wiesbaden 2020, 18), verschob sich die Lebensmittelherstellung aus den Haushalten in Betriebe wie Bäckereien und Metzgereien (vgl. Jaeger 2006, 481). Je mehr Menschen in den Städten arbeiteten und lebten, desto größer wurde der Bedarf an Nahrungsmitteln und vor allem an Grundnahrungsmitteln wie Brot. Aus diesem Bedarf entstanden lokale Versorgungsnischen, die unter anderem die Handwerksbäckereien besetzten. Neben vielen kleinen Bäckereien, die sich etwa die Blücherstraße, die Hellmundstraße oder Schwalbacher Straße teilten, ermöglichte der technologische Fortschritt das Aufkommen der ersten Großbäckereien. Mit dieser Entwicklung ging eine Spaltung des Backgewebes einher (vgl. Beile, Drecher-Bonny & Maack 2009, 19). Auf der einen Seite gab es meistergeführte Handwerksbetriebe, die Backwaren in einer geringen Quantität mit hoher Qualität herstellten, auf der anderen Seite begannen Großbäckereien eine große Quantität mit geringer Qualität produzierten. Nach und nach schrumpfte der Qualitätsunterschied in den Augen der Konsumenten:innen und mit dem Aufkommen der Supermärkte sowie der steigenden Alltagsmobilität wuchs die Bequemlichkeit, die industriell hergestellten Backwaren ganz nach dem Motto „einmal hin, alles drin“ beim Großeinkauf mitzunehmen. Um konkurrenzfähig zu bleiben entwickelten jene Handwerksbäckereien, die es sich leisten konnten, ein Zwitterkonzept aus Handwerks- und Großbäckerei: die Filialbäckerei (vgl. Beile Drecher-Bonny & Maack 2009, 19–24).

„Wo es „in den 1950er Jahren überwiegend kleine Familienbetriebe [gab], in denen der Verkauf an die Backstube angeschlossen war, so geht der Trend heute vermehrt zu zentralen Produktionsstätten mit einem lokalen oder regionalen Netz von Verkaufsstellen“ (Wörrle 2019).

Für das Westend hieß das, dass innerhalb einer Generation aus einem kollegialen Mit- und Nebeneinander unter den Bäckermeister:innen, die in derselben Straße koexistierten und sich gegenseitig aushalfen (vgl. Interview S. Walser 2020), ein Verdrängungswettbewerb mit lokalen Marktführern entstand (vgl. Interview D. Walser 2020). „Das ‚Wir-Gefühl‘ der Bäcker ist im Laufe der Zeit zurückgegangen und einem individuell geprägten Selbstverständnis gewichen“ (Schulte to Bühne 2000, 170).
Neben dem Verhältnis zwischen den Bäckereien veränderten sich auch die Arbeitsabläufe in den Betrieben selbst. Dabei entschied die Möglichkeit auf dem neusten Stand der Technik zu bleiben oft über das Überleben einer Bäckerei. So macht der skizzierte Fall vom Bäcker Kämpfer deutlich, wie schon in den 60er-Jahren eine veraltete Backstube dazu führte, dass eine kleine Bäckerei keine Nachfolge fand (vgl. Interview S. Walser 2020). Die Geschichte der Bäckerei Walser hingegen zeigt, dass immer wieder in neue Öfen und Maschinen investiert wurde, womit sich nicht nur die körperliche Anstrengung für die Bäcker:innen verringerte, sondern auch die Kapazität der Bäckereien vergrößerte. Das ermöglichte letztendlich die Expansion (vgl. Interview S. Walser 2020; Interview Meuer 2020). Die Markteinstiegskosten sowie die Kosten für Modernisierungen sind damit für die selbstständigen Bäckermeister:innen deutlich höher, als sie es vor der Technisierung des Gewerbes waren. Für kleine Bäckereien ist es also nicht nur fraglich, ob sie überhaupt am Markt teilnehmen können. Der ohnehin schon kritische Moment der Nachfolge spitzt sich weiterhin zu, da das Kapital für die nötigen Modernisierungsmaßnahmen häufiger fehlt (vgl. Beile, Drecher-Bonny & Maack 2009, 19).

„Wenn sie heute einen Betrieb haben, der gut dasteht, der gut ausgestattet ist, dann müssen sie eigentlich viel, viel Geld hinlegen, um den überhaupt zu bekommen – also ist das uninteressant. […] Und wenn der [Betrieb, L.B.] zu runtergewirtschaftet ist, dann ist es gerade andersrum. Dann müssten sie viel zu viel investieren. Das lohnt sich auch nicht“ (Interview D. Walser 2020).

Die erhöhten Investitions- und Modernisierungskosten sind allerdings nicht alleine auf den Produktionsbereich der Bäckereien zurückzuführen. Die Kundschaft kauft heutzutage nicht mehr nur Brot und Brötchen in Bäckereien ein, wie es noch im letzten Jahrhundert der Fall war (vgl. Wörrle 2019). Bäckereien haben heute häufig parallel einen regen Cafébetrieb, für den die entsprechende Möblierung verfügbar sein muss (vgl. Interview D. Walser 2020). Der hohe finanzielle Druck führt sowohl im Westend als auch deutschlandweit zum stetigen Schwinden der kleineren Handwerksbäckerei.
Die Verdichtung des Marktes, die in die Höhe gestiegenen Investitions- und Modernisierungskosten und das veränderte Konsumverhalten der Kundschaft machte die Übernahme von Bäckereien im letzten halben Jahrhundert immer komplizierter und unattraktiver für eine neue Generation der Bäcker:innen. Zusätzlich besteht im Bäckerhandwerk ein Nachwuchsmangel. So hat sich die Zahl der in Wiesbaden abgeschlossenen Bäckerlehren zwischen 2009 und 2019 mehr als halbiert (vgl. Handwerkskammer Wiesbaden 2020), womit sich auch die Zahl der potenziellen Bäckermeister:innen verringert, die eine Selbständigkeit anstreben (vgl. Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks 2019).
Doch was bedeuteten all diese Trends, die den Rückgang von Bäckereien im Westend antreiben für die Nischenfunktion der Handwerksbäckerei? Je mehr die Gewohnheit „Zum-Bäcker-gehen“ durch die des „Im-Supermarkt-sich-etwas-Gebackenes-mitnehmen“ abgelöst wird, desto weniger Anspruch haben Handwerksbäckereien auf ihre vormalige Versorgungsrolle in der Stadt. Diese Rolle haben gewissermaßen Supermärkten und großen Filialbäckereien übernommen. Das heißt aber nicht, dass die Handwerksbäckereien vollständig aus dem Stadtbild verschwinden werden. Wo sie früher primär aus einer Backstube und einem Ladengeschäft bestanden, sprich einem gemeinsamen Produktions- und Verkaufsort für Backwaren (vgl. Interview S. Walser 2020), betreiben die meisten Bäckereien heute zusätzlich ein Café (vgl. Interview D. Walser 2020). Damit wird die Bäckerei zum Freizeitort[5], bei dem die Kundschaft nicht mehr nur ihre Nahrungsversorgung sicherstellt, sondern sich mit Freunden trifft und verweilt. Die Handwerksbäckereien lösen sich von ihrer früheren Funktion und bedienen neue Bedürfnisse ihrer Kundschaft, wie etwa ein Snack-Segment (vgl. Wörrle 2019) oder spezielle Diäten, die für Industrie- oder Großfilialbäckereien uninteressant sind (vgl. Interview D. Walser 2020; Interview S. Walser 2020). Oder, wie Siegfried Walser es formuliert: „Wir müssen gucken, dass wir ein Nischenbäcker sind“ (Interview S. Walser 2020).

[1] Der folgende Text basiert hauptsächlich auf Interviews mit Siegfried und Dirk Walser („Urbane Nischen“, S. Walser 2020; „Urbane Nischen“, S. Walser 2020), die nur bei einem direkten Zitat angegeben werden. Alle weiteren Quellen werden nach den Regeln des wissenschaftlichen Zitierens angegeben.

[2] Für Bäcker:innen, die sich selbstständig machen wollen, besteht weiterhin Meisterpflicht (vgl. Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks e.V., 2011). Jedoch ist keine fünfjährige Gesellenzeit mehr notwendig um die Meisterschule zu besuchen.

[3] Die Bäckerei Welser war Mitglied des „SlowBaking“-Verein, der sich 2011 wg. Ungereimtheiten in der Mitgliedschaft (vgl. Interview D. Welser 2020) neu zu „Die Freien Bäcker e.V.“ formierte (vgl. Die Freien Bäcker e.V. 2021; BÄKO magazin 2011).

[4] Colin McFarlane beschreibt diese Flüchtigkeit des städtischen Wohnens mit dem Begriff der „Assemblage“ (vgl. Mc Farlane 2011).

[5] Ray Oldenburg beschreibt das, was ich hier als Freizeitort bezeichnet wird, als „Third Place“ neben den First Place, der Heimat, und dem Second Place, dem Arbeitsort (vgl. Oldenburg 1989).

Literatur

Amt für Statistik und Stadtforschung Wiesbaden (2020). Statistisches Jahrbuch 2019. Wiesbaden: Landeshauptstadt Wiesbaden.

Beile, Judith, Drecher-Bonny, Ina & Maack, Klaus (2009). Zukunft des Backgewerbes. Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung.

BÄKO magazin (2011). Aus „SlowBaking“ wird „Slow Food. Die Bäcker e.V.“ https://www.baeko-magazin.de/aktuell/branche-aktuell/24-01-2011-aus-slowbaking-wird-slow-food-die-baecker-ev/ [18.03.2021].

Die Freien Bäcker e.V. (2021). Über uns. https://www.die-freien-baecker.de/ueber-uns/ [18.03.2021].

Handwerkskammer Wiesbaden (2020) Auswertung der Lehrlingsstatistiken 2019 – Kammerbezirk Wiesbaden. Wiesbaden: Handwerkskammer Wiesbaden.

Jaeger, Friedrich (2006). Enzyklopädie der Neuzeit. Dynastie – Freundschaftslinien Bd.3. Stuttgart/Weimar: Metzler

Kaschuba, Wolfgang (2012). Einführung in die europäische Ethnologie. München: C.H. Beck.

Star, Susan L. (1999). The Ethnography of Infrastructure. American Behavioral Scientist, 47, 377391.

McFarlane, Colin (2011). The city as assemblage: Dwelling and urban space. Environment and Planning D: Society & Space, 29, 649671.

Niewöhner, Jörg (2014). Perspektiven der Infrastrukturforschung: care-ful, relational, ko-laborativ. In: Diana Lengersdorf & Matthias Weiser (Hg.). Schlüsselwerke der Science & Technology Studies (341–352). Wiesbaden: Springer VS.

Oldenburg, Ray (1989). The Great Good Place: Cafes, Coffee Shops, Community Centers, Beauty Parlors, General Stores, Bars, Hangouts, and How They Get You Through the Day. New York: Paragon House.

Schulte to Bühne, Julia (2000). Das Bäckerhandwerk von 1896 bis 1996 am Beispiel der Stadt Münster. (Münsteraner Schriften zur Volkskunde /europäische Ethnologie, Bd. 7) Münster u.a.: Waxmann.

Toepfer, Georg (2011). Nische. In: Ders. (Hg.). Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe (669–680). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Wörrle, Jana Tashina (2019). Mythos Bäckersterben? www.deutsche-handwerks-zeitung.de/mythos-baeckersterben/150/3094/356849 [17.01.2021].

Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks e.V. (2011). Bundesverwaltungsgericht stärkt Meisterpflicht im Handwerk: obligatorischer Meisterbrief für die Selbstständigkeit bleibt. www.baeckerhandwerk.de/politik-presse/pressemitteilung/bundesverwaltungsgericht-staerkt-meisterpflicht-im-handwerk-obligatorischer-meisterbrief-fuer-die-s/ [19.01.2020].

Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks e.V. (2019). Aktuelle Betriebszahlen im Bäckerhandwerk: Zunehmender Umsatz bei abnehmenden Lehrlingszahlen. www.baeckerhandwerk.de/politik-presse/pressemitteilung/aktuelle-betriebszahlen-im-baeckerhandwerk-zunehmender-umsatz-bei-abnehmenden-lehrlingszahlen/ [20.01.2020].

 

 

Quellen

Adressbuch der Residenzstadt Wiesbaden und Umgegend, 1910. Wiesbaden: Schnegelberger & Cie. Online-Ausgabe: Wiesbaden: Hochschul- und Landesbibliothek RheinMain. https://hlbrm.digitale-sammlungen.hebis.de/adressbuecher-hlbrm/ periodical/titleinfo/3112575 [02.03.2021].

Adressbuch der Residenzstadt Wiesbaden und Umgegend, 1931. Wiesbaden: August Scherl Deutsche Adreßbuch-Gesellschaft m. b. H. Online-Ausgabe: Wiesbaden: Hochschul- und Landesbibliothek RheinMain. https://hlbrm.digitale-sammlungen.hebis.de/adressbuecher-hlbrm/periodical/titleinfo/3132069 [02.03.2021].

Adressbuch der Residenzstadt Wiesbaden und Umgegend, 1936/37. Wiesbaden: August Scherl Deutsche Adreßbuch-Gesellschaft m. b. H. Online-Ausgabe: Wiesbaden: Hochschul- und Landesbibliothek RheinMain. https://hlbrm.digitale-sammlungen.hebis.de/adressbuecher-hlbrm/periodical/titleinfo/3132072 [02.03.2021].

Bäckerinnung Frankfurt-Wiesbaden-Darmstadt (BI Hessen). Lehrlingsrollen.

Stadtarchiv Wiesbaden (StadtA WI), Gewerbeabmeldung Karl Kämpfer.

Stadtarchiv Wiesbaden (StadtA WI), Gewerbekartei Karl Kämpfer.

Stadtarchiv Wiesbaden (StadtA WI), Meldekarte Karl Kämpfer.

Interview Meuer (2020). Interview mit Peter Meuer, geführt am 02.11.2020, von Lukas Blank in Mainz.

Interview S. Walser (2020). Interview mit Siegfried Walser, geführt am 29.10.2020, von Lukas Blank via Telefon.

Interview D. Walser (2020). Interview mit Dirk Walser, geführt am 29.10.2020, von Lukas Blank via Telefon.

Projekt Urbane Nischen. Mailverkehr Heuser a, erhalten am 25.08.2020.

Projekt Urbane Nischen. Mailverkehr Heuser b, erhalten am 07.11.2020.

Wiesbadener Kurier (1956). Bäckermeister einmal ganz unter sich. Artikel vom 23. April 1956.

 

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