Kunst hinter der Fassade.
Das Atelier von Theo Kemen in der Goebenstraße
Kunst hinter der Fassade.
Das Atelier von Theo Kemen in der Goebenstraße
Hinterhöfe, Parkplätze und Kunst haben auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam. Sie sind zwar alle Teil einer Stadt, wecken aber zunächst ganz unterschiedliche Vorstellung von städtischer Atmosphäre. In einem Hinterhof der Goebenstraße kommen alle drei Faktoren und Atmosphären an einem Ort zusammen. Theo Kemen, Maler und Bildhauer im Wiesbadener Westend, gestaltet hier aus einer kreativen Nische heraus seinen eigenen Freiraum.
Moritz Hübinger
Nur ein Parkplatz?
Für viele Wiesbadener:innen ist neben dem Ausbau von sicheren Radwegen der Ausbau von Parkmöglichkeiten ein zentrales Anliegen (Landeshauptstadt Wiesbaden 2019, 18). Es ist daher nicht verwunderlich, dass wir, im Rahmen des Projekts, auf unseren Erkundungen durch das Westend feststellen konnten, dass eine Vielzahl der Hinterhöfe heute als Stellplatz für das eigene Auto genutzt wird. Dies trifft auch auf die zwei Hinterhöfe der Goebenstraße 17 zu.
Was sich heute vor allem als Parkplatz präsentiert, sah vor drei Generationen noch ganz anders aus. In den 1930er Jahren etwa wohnten in diesem Haus in der Goebenstraße unter anderem ein Architekt, ein Schneider, ein Töpfer und ein Fuhrmann (vgl. Adressbuch Wiesbaden 1936/37, [340] 43), die dem gemeinsamen Hinterhof eine andere Rolle zuschrieben. Für sie war der Hof ein Vorraum zur Gewerbefläche und diente als Zuweg sowie Lager- und Arbeitsfläche (vgl. Russ 2005 9; Schroubek 2008, 224).
Die Entstehung von Hinterhöfen ist kein Zufallsprodukt, und war schon in der Architektur der Blockrandbebauung eingeplant als Raum zur „Entlüftung“ der Quartiere und zur sozialen Durchmischung der Bewohnerschaft (vgl. Russ 2005, 17; 25). Die Funktion des Freiraums hat sich im Laufe der Jahre und in Abhängigkeit der Bewohnerschaft stets gewandelt. Die architektonische Nische, die der Hinterhof in einer Stadt darstellt, kann durch die Anwohner:innen „gemacht, angeeignet und verändert“ werden (Roth 2020), wie etwa die Umwandlung von der Gewerbe- zur Parkfläche.
Auch wenn die Entwicklung des Hinterhofs zu einem Parkplatz unspektakulär wirkt, ist es eine fast schon logische Konsequenz in einem dicht besiedelten urbanen Zentrum. In einer möglicherweise autofreien Innenstadt der Zukunft wird die architektonische Nische Hinterhof wieder neue Funktionen erhalten. Die verschiedenen Hinterhofgeschichten dieser Projektseite führen vor Augen, wie vielfältig die Bedeutungen und Nutzungsformen von Hinterhöfen ausfallen können. Denn jeder Freiraum in der Innenstadt verfügt über das Potential, „ein Raum für unausgegorene Ideen, ein Raum der Vielfalt, des Unangepassten, des Experimentierens, der Überraschungen, der Begegnung mit dem Fremden, kurz: ein Raum urbaner Kreativität“ zu werden (Rolshoven 2012, 55). Manchmal ist dieser kreative Freiraum nicht auf den ersten Blick zu erkennen und fällt erst auf, wenn ein Blick hinter die Fassade und auch über den Hinterhof hinausgeworfen wird. So wie hier, in der Goebenstraße 17.
Theo Kemen – Bildhauer und Maler.
Hinterhöfe sind für gewöhnlich nicht uneingeschränkt zugänglich und für Menschen, die durch die Straßen laufen oder fahren nur in Ausnahmefällen einsehbar. Das haben Hinterhöfe mit der Kunst und der Arbeit am Kunstwerk gemeinsam. Künstlerisches Schaffen, sofern es sich nicht um eine performative Aktionskunst handelt, findet in der Regel in privaten Ateliers statt und nur die Künstler:innen können Außenstehenden den Zutritt erlauben.
Um diese Kunstorte zugänglicher zu machen, hatte eine Gruppe von Künstler:innen des Westends über zwölf Jahre hinweg einmal jährlich den Aktionstag „Offene Ateliers“ veranstaltet. Einer der Künstler, der an diesen Tagen seine Tore für Besucher:innen öffnete, war Theo Kemen, der sein Atelier in der Goebenstraße 17 eingerichtet hat. Er erinnert sich: „Das war eine tolle Sache, da kamen […] immer wahnsinnig viele Leute, die dann hier in der Goebenstraße entlanggelaufen sind.“ (Interview Kemen 2020). Die Organisation von solchen Events und das Beschaffen von Fördergeldern wurden der Initiatorin im Laufe der Jahre zu aufwendig und Theo Kemen beschloss – nun in Eigenregie – zweimal im Jahr sein Atelier für Kunstinteressierte zu öffnen.
Auf unser Projekt „Hinterhof Westend“ wurde Theo Kemen durch einen Flyer aufmerksam, in dem wir die Bewohner:innen im Westend dazu aufriefen, ihre Ansichten und Geschichten von Hinterhöfen mit uns zu teilen. Theo Kemen lud uns ein, ihn zu besuchen, und so erhielt ich die Möglichkeit, sein Atelier und seine Kellergalerie zu besichtigen. In einem persönlichen Gespräch erfuhr ich mehr von der Verbindung seiner Person mit dem Westend und dem Hinterhof der Goebenstraße 17.
Die Goebenstraße war und ist bis heute ein Ort, an dem sich viele Künstler:innen niederlassen. Für Theo Kemen ist „die Goebenstraße […] eine der schönsten Straßen in Wiesbaden, vor allem in den Sommermonaten“ (E-Mail Kemen 2020). Vor 40 Jahren überzeugte ihn die besondere Architektur der Goebenstraße seinen Wohnort in die hessische Landeshauptstadt zu verlegen. Seit 1979 lebt der Bildhauer und Maler im Wiesbadener Westend und arbeitet dort seit 1982 als freischaffender Künstler. Neben unterschiedlichen Skulpturen haben sich im Laufe der Jahre eine Vielzahl an Gemälden in seinen Atelier- und Lagerräumen angesammelt. Thematisch ist Kemen hierbei nicht festgelegt. Die Inspiration für seine Arbeiten erhält er durch aktuelle Ereignisse, wie seine Bilder der „Covid-19-Serie“ zeigen. Oder aus der unmittelbaren Nachbarschaft, wie etwa durch ein Bild, das er von einem Mädchen geschenkt bekam, das in der Goebenstraße 17 lebt (Interview Kemen 2020).
Theo Kemen erinnert sich, dass in den 1980er Jahren sehr viele Künstler im Viertel ansässig waren. „Allein in der Goebenstraße 13 oder 15, glaube ich. […] Das ist wie ein […] Dorf, man kennt sich und sieht sich ja jeden Tag“ (Interview Kemen 2020). Kemen arbeitete zwischenzeitlich mit sechs weiteren Künstler:innen zusammen, unter anderem mit zwei Steinmetzen, einem Fotografen und einem Trommelbauer (Interview Kemen 2020). Mit ihnen teilte sich Theo Kemen die Räumlichkeiten in der Goebenstraße 17, ehe er sich 2006 dazu entschloss, mit seinem Atelier in die Goebenstraße 3 zu ziehen, denn „das war ebenerdig und auch 200 Quadratmeter groß und ich war immer 25 Jahre im Keller.“ (Interview Kemen 2020). Die größeren und helleren Räumlichkeiten gaben Kemen die Möglichkeit kulturelle Veranstaltungen vor Ort zu organisieren, die von vielen Gästen besucht wurden (E-Mail Kemen 2020).
Nach zehn Jahren entschloss sich der Eigentümer jedoch dazu, Wohneinheiten aus dem Atelier zu machen: „Solche Aktionen finden mittlerweile leider häufiger im Westend statt“. Das führte dazu, dass die Künstler:innengemeinschaft der Goebenstraße kleiner wurde (vgl. E-Mail Kemen 2020). Theo Kemen hatte jedoch Glück im Unglück. Die Räume in der Goebenstraße 17 standen zu diesem Zeitpunkt leer, sodass er 2016 im Vorderhaus sein Atelier und im zweiten Hinterhaus ein Lager für seine Werke sowie eine Kellergalerie einrichten konnte.
Das „Kreative Milieu“
Das von Kemen angesprochene „Künstlerdorf“, das in den 1980er Jahren in der Goebenstraße existierte, meint kein Dorf im Sinne einer eigenständigen Siedlung. Vielmehr charakterisiert Kemen damit eine Gemeinschaft, die sich aus mehreren Künstler:innen zusammensetzt und gewissermaßen ein eigenes Milieu bildet. Durch die nachbarschaftliche Nähe, den geteilten Arbeitsplatz und die ähnlichen Lebensformen stehen die Kunstschaffenden in einer ständigen Wechselbeziehung. Und es sind eben diese Wechselbeziehungen, „aus denen sich spezifisch räumlich situierte Praktiken und Diskurse, aber auch gemeinsam geteilte Bedeutungen entwickeln“, die einen kreativen Einfluss auf die Arbeit und das Leben haben und als „kreatives Milieu“ bezeichnet werden (Merkel 2012, 689).
Dieses kreative Milieu und die Kunst im Allgemeinen profitiert im städtischen Raum vor allem von den zahlreichen Zugängen zu kulturellen Institutionen „wie Hochschulen, Kultureinrichtungen oder auch Clubs, Bars, Cafés und Ausstellungen“ (Merkel 2012, 695). Die Netzwerke, die aus solchen Verbindungen entstehen können, sind wiederum für alle Seiten gewinnbringend und sie wirken im Westend bis in die Gegenwart fort. Obwohl die Goebenstraße im Vergleich zu den 1980er-Jahren kein „Künstlerdorf“ mehr darstellt, ist sie auch heute häufig Ausgangs- und Mittelpunkt von Kunst- und Kulturevents im Westend. Als Beispiel ist hier der Zusammenschluss von mehreren Kreativen und Selbstständigen zu nennen, die unter dem Motto „Kleinode im Westend entdecken“ am 25.07.2020 die Türen zu ihren Räumlichkeiten öffneten (vgl. Sensor 2020). Titus Grab, der Initiator des Events und seine Kolleg:innen, wollten „einfach wieder gesehen werden“ (Mensch Westend 2020). Denn: „Wir werden nicht als systemrelevant eingeschätzt und doch wäre diese Stadt sehr viel ärmer ohne uns“ (Sensor 2020).
Was würde einer Stadt und einem Viertel fehlen, wenn kulturelle und künstlerische Arbeiten aus ihrer Mitte verschwinden? Die Soziologinnen Sabine Meier und Kathrin Schlenker beschreiben es so: „Kunst in öffentlichen Stadträumen hat das Potenzial sozialräumliche Atmosphären zu verändern beziehungsweise neu zu formieren“ (Schlenker; Meier 2017, 162). Doch was sich hinter dem Begriff Atmosphären verbirgt, bleibt zunächst schwer greifbar. Für den Philosophen Gernot Böhme handelt es sich bei Atmosphären weder um etwas eindeutig Objektives noch um etwas klar Subjektives. Jede Person habe eine bewusste oder unbewusste Einflussnahme bei der Schaffung von Räumen und Atmosphären (vgl. Böhme 1995, 33). Sie können individuell und austauschbar als Gefühl wahrgenommen werden, aber auch kulturell geprägt, allgemeingültig, symbolisch oder medial vermittelt werden (vgl. Bischoff 2002, 135). Eine sozialräumliche Atmosphäre wird somit im Wechselspiel von künstlerischem Schaffen und der gefühlten Atmosphäre des Raums mitgestaltet. Wie der urbane Raum im Allgemeinen, können die Atmosphären des Stadtraums durch gezieltes Eingreifen, aber auch durch unbewusste Handlungen, permanent verändert werden. Künstler:innen können somit Atmosphären aufnehmen und beeinflussen. Mit ihrem Schaffen greifen sie gestaltend in den Raum ein und machen gewissermaßen symbolisch Ansprüche und Einflüsse auf ihre urbane Nische geltend (vgl. Roth 2020).
Folgt man Gernot Böhme und seiner These, dass „Atmosphären […] das menschliche In-Der-Welt-sein im Ganzen bestimmt, also seine Beziehung zu Umgebungen, zu anderen Menschen, zu Dingen und Kunstwerken“ (Böhme 2006, 105), so ist eine bestimmte Atmosphäre auch erst die Voraussetzung für die Entstehung eines kreativen Milieus. Die Sozialwissenschaftlerin Janet Merkel benennt drei zentrale Merkmale für die Herausbildung eines solchen Milieus (vgl. Merkel 2012, 697). Darunter fallen etwa die engen Beziehungen unter den Akteuren, die über das Ökonomische hinausgehen und vor allem auf sozialer und kultureller Basis funktionieren, sowie „das Herausbilden von spezifisch sozialen Praktiken und gemeinsamer Bedeutungen“ (vgl. Merkel 2012, 697). Diese beiden Aspekte werden in der Umsetzung von gemeinsam geplanten Aktionen der Kunstszene des Wiesbadener Westends deutlich, wie der bereits erwähnte Aktionstag der „offenen Ateliers“. Als dritten ausschlaggebenden Punkt nennt Merkel die enge Verbindung von Wohnen, Arbeiten und Leben an einem Ort, woraus eine emotionale und identifikatorische Bindung zu diesem entsteht (vgl. Merkel 2012, 697). Neben den erwähnten Merkmalen möchte ich gerne noch ein weiteres Attribut ergänzen, was im Falle von Theo Kemen ebenfalls zu einer Verfestigung und Stärkung des kreativen Milieus führt: Die Vermittlung von Wissen.
In diesem Zusammenhang ist besonders sein Lehrauftrag für Freies Zeichnen an der Hochschule RheinMain zu erwähnen, wo er von 2004 bis 2019 unterrichtete. Darüber hinaus arbeitete Kemen immer wieder in Kollektiven und präsentierte, etwa in einer Sonderausstellung im Oktober 2020, mit einem jungen Künstlerkollegen gemeinsam gemalte Bilder. Durch solche Projekte, die sich um eine Weitergabe von Wissen bemühen, wird auch der Zusammenhalt der kreativen Community gestärkt und es werden (möglicherweise) neue Ideen und Veranstaltungen umgesetzt – vielleicht sogar wieder vermehrt in den Hinterhöfen des Westends. Denn es sind letztlich vor allem die Anwohner:innen, die ihre Häuser und Höfe als ihre Nische gestalten und verändern und damit zu der besonderen Atmosphäre beitragen, die das Westend ausstrahlt.
Literatur
Bischoff, Werner (2002). „Das ist ja wohl die Höhe.“ Höhe als Dimension der Geographie und Architektur. In: Haase, J. (Hg.). Subjektivität in der Stadtforschung. (115–148). Frankfurt a. M.: Inst. für Didaktik der Geographie.
Böhme, Gernot (1995). Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Böhme, Gernot (2006). Architektur und Atmosphäre. Paderborn: Fink.
Mensch Westend (2020). Kleinode im Westend entdecken. Kreative und Selbständige stellen sich am Samstag vor. https://www.mensch-westend.de/2020/07/24/kleinode-im-westend-entdecken-kreative-und-selbstaendige-stellen-sich-am-samstag-vor/ [12.01.2021].
Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung (2019). Wiesbadener Stadtanalyse. Leben in Wiesbaden 2018. Fakten und Einstellung zum Thema Verkehr. https://www.wiesbaden.de/medien-zentral/dok/leben/stadtportrait/2019_04_Stadtanalyse_LIW_Verkehr.pdf [17.05.2021].
Merkel, Janet (2012). Kreative Milieus. In: Eckhardt, Frank (Hg.). Handbuch der Soziologie (689–710). Wiesbaden: Springer VS.
Rolshoven, Johanna (2012). Innenstadt – ein kulturanalytischer Ansatz. In: Wékel, Julian (Hg.). Die Zukunft der Innenstadt. (Almanach 2011/2012) (53–64). Berlin: DASL.
Roth, Jonathan (2021). Urbane Nischen. Kulturanalytische Perspektiven auf den Hinterhof. In: Ders. (Hg.). Urbane Nischen. Ethnographische Erkundungen in den Hinterhöfen des Wiesbadener Westends. Mainz.
Russ, Sigrid (2005). Wiesbaden Stadtgestalt und Stadtentwicklung. In: Dies. Kulturdenkmäler in Hessen. Wiesbaden I.2. Stadterweiterungen innerhalb der Ringstraße. (Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland, hg. v. Landesamt für Denkmalpflege Hessen). (5–54). Stuttgart.
Schlenker, Kathrin; Meier, Sabine (2017). Was evoziert Kunst in öffentlichen Räumen? Überlegungen zu Transformation von sozialräumlicher Bedeutung, Atmosphäre und performativer Urbanität. In: Gerland, Juliane (Hg.). Kultur. Inklusion. Forschung. (159–167). Weinheim: Beltz Juventa
Schroubek, Georg R. (2008). Beletage und Hinterhof. Gemeinsames Wohnen in einer geschichteten Gesellschaft. In: Ders. Studien zur böhmischen Volkskunde. (Münchner Beiträge zur Volkskunde, Bd. 36) (219–230). Münster u.a.: Waxmann.
Sensor Wiesbaden (2020). Kleinode im Westend entdecken: Ein besonderer Tag in einem besonderen Stadtteil. https://sensor-wiesbaden.de/kleinode-im-westend-entdecken-ein-besonderer-tag-in-einem-besonderen-stadtteil/ [12.01.2021].
Quellen
Adressbuch der Residenzstadt Wiesbaden und Umgegend, 1936/37. Wiesbaden: August Scherl Deutsche Adreßbuch-Gesellschaft m. b. H. Online-Ausgabe: Wiesbaden: Hochschul- und Landesbibliothek RheinMain. https://hlbrm.digitale-sammlungen.hebis.de/adressbuecher-hlbrm/periodical/structure/3132072 [17.05.2021].
Interview Kemen (2020). Interview mit Theo Kemen, geführt am 26.10.2020 von Moritz Hübinger in Wiesbaden.
E-Mail Kemen, erhalten am 02.08.2020.