Die ehemalige Infanteriekaserne
Ein Hinterhof der Stadt

Die ehemalige Infanteriekaserne
Ein Hinterhof der Stadt

Krankheiten, insbesondere der gefürchtete Typhus, tummelten sich im 19. Jahrhundert in dem von Bächen und Quellen durchzogenen Wiesbaden. Sie brachen oft in der ehemaligen Infanteriekaserne aus, die ab 1817 an der Schwalbacher Straße errichtet wurde, dort, wo sich heute der Platz der Deutschen Einheit befindet. Die Ursachen für die Krankheitswellen hingen eng mit den Bedingungen zusammen, unter denen die Soldaten auf dem Militärgelände ihre Wehrpflicht absolvierten. Der Beitrag erzählt anhand historischer Quellen vom Alltag in der Kaserne und vom Umgang mit Hygiene und Krankheit im 19. Jahrhundert.

Katja Knehr

Hören Sie sich diesen Beitrag als Hörspiel an.
Produktion: Stefan Senf
Sprecher:innen: Isabelle Stolzenburg und Stefan Senf

Im Hochsommer des Jahres 1885 sorgte Wiesbaden überall in Europa für Schlagzeilen. In den Niederlanden, England und Italien wurde von einem Besuch der nassauischen Kurstadt dringend abgeraten (StadtA WI, Best. WI/2, Nr. 1808). Den Rhein entlang publizierten die Lokalzeitungen immer akutere Warnungen und Mutmaßungen: „Nach mehrfach hierhergelangter Mittheilung herrscht in unserer Nachbarstadt Wiesbaden stark der Typhus“, berichtete die Zeitung Mainzer Nachrichten am 9. Juli des Unglückjahres. „Man soll dorten ängstlich bemüht sein, die Sache zu vertuschen. Wenn wir uns recht entsinnen, war dieses schon einmal der Fall“ (StadtA WI, Best. WI/2, Nr. 1808).
Der Typhus suchte Wiesbaden als Stammgast beinahe in jedem Jahr heim (vgl. Koch, Seelos & Silberzahn 2015, 18; vgl. StadtA WI, Best. WI/2, Nr. 1807). Die Bakterien fanden in den warmen, verunreinigten Quellen, Bächen und Brunnen der Stadt ideale Lebensbedingungen vor (vgl. Wiesbaden 2020). Doch der Juli des Jahres 1885 gestaltete sich tödlicher als die vergangenen Hochsommer: Über 900 der mehr als 56.000 Einwohner erkrankten und 59 fielen der Seuche zum Opfer (vgl. Koch, Seelos & Silberzahn 2015, 18; vgl. Kopp 1986, 100; vgl. KulTour & Mehr 2020). Die Typhusepidemie 1885 war eine der schlimmsten, die Wiesbaden je heimsuchen sollte.
Es folgte eine Welle von Entsetzen und Wut. Rufe nach Antworten auf die Katastrophe wurden laut (vgl. Kopp 1986, 100f.). Die Stadt beschleunigte den Ausbau des schon seit Jahren geforderten modernen Kanalsystems (vgl. Koch, Seelos & Silberzahn 2015, 20). Offene Gewässer wurden unter die Erdoberfläche verlegt (vgl. HHStAW, Best. 202, Nr. 289; vgl. Sensor 2014). Der Wiesbadener Gemeinderat berief des Weiteren eine achtköpfige „Untersuchungs Commission“ (StadtA WI, Best. WI/2, Nr. 1807) aus Ärzten und Wissenschaftlern ein, die die genauen Umstände der Epidemie feststellen sollten (vgl. Kopp 1986, 101). Alle Gutachter kamen dabei zu demselben Ergebnis: Aufgrund der hygienischen Missstände in der Stadt entstanden immer wieder „Typhusheerde“ (StadtA WI, Best. WI/2, Nr. 1807), von denen sich die erst kürzlich entdeckten Bakterien über die gesamte Stadt verbreiteten (vgl. Koch, Seelos & Silberzahn 2015, 13).
Ein besonderes Augenmerk richteten die Mediziner auf die Infanteriekaserne an der Schwalbacher Straße – es war nicht das erste Mal, dass sie mit der Seuche in Verbindung stand (vgl. StadtA WI, Best. WI/2, Nr. 1807). Bei der Infanteriekaserne handelte es sich um eine unliebsame Einrichtung, die zwar für Ausbildungszwecke ausreichend, aber der ‚stolzen Kurstadt‘ zu unansehnlich und unrein war. Hier spielten sich Dinge ab, die von außen nicht bemerkt werden sollten. Ständig traten sanitäre Probleme auf. Bereits ein halbes Jahr vor der Masseninfektion befiel der Typhus erste Opfer in der Garnison (vgl. HHStAW, Best. 405, Nr. 8779). Im benachbarten Militärhospital kämpften im Juli 1885, auf dem Höhepunkt der Epidemie, elf Soldaten gegen die Krankheit (vgl. HHStAW, Best. 202, Nr. 374; vgl. HHStAW, Best. 405, Nr. 531; vgl. StadtA WI, Best. WI/2, Nr. 1808). Doktor Arnold Pagenstecher, ein Mitglied der Typhus-Kommission, listete sie in seinem Bericht als ersten Seuchenherd des Jahres 1885 auf und mahnte: „Fast in jedem Jahr lieferte das Militärhospital Todesfälle“ (StadtA WI, Best. WI/2, Nr. 1807).
Auch in früheren Seuchenjahren war die Infanterie-Kaserne ein Epizentrum der Katastrophe. Bisweilen ächzten über hundert Soldaten in ihren Betten und dem Lazarett unter dem Typhus (vgl. StadtA WI, Best. WI/2, Nr. 1807). Diese Entwicklungen wurden von den Bewohner:innen des Westends und der restlichen Stadt misstrauisch beobachtet. Ein Reporter der Nassauischen Volkszeitung pointierte unter dem Eindruck der Epidemie von 1885: „Bekanntlich gelten unsere alten Kasernen schon längst als nicht mehr besonders geeignet und namentlich auch in gesundheitlicher Hinsicht“ (StadtA WI, Best. WI/2, Nr. 1808).
Krankheit, Elend und hygienische Missstände ziehen sich durch die über 90-jährige Geschichte der ehemaligen Infanterie-Kaserne. Sie ist eng mit der Geschichte des Westends verwoben, denn die Truppenunterkunft war eines der ersten Gebäude, das in dem späteren Stadtteil errichtet wurde (vgl. Niebergall 2012, 3). Das Gelände bildete wortwörtlich den Grundstein des Viertels. Zuvor befanden sich im heutigen Westend Gestrüpp, Wiesen, Felder, Bäche und Mühlen (vgl. KulTour & Mehr 2020).
Der Bau begann im Jahr 1816 auf Ackerland im Faulweidenborn. Der Boden erwies sich bald als zu weich für die Gebäude und musste deshalb verdichtet werden (vgl. HHStAW, Best. 202, Nr. 634). Starke Regenfälle erschwerten die notwendigen Maßnahmen und verwandelten zu allem Überfluss die als Fuhrstraße angelegte Schwalbacher Straße in ein Meer aus Schlamm (vgl. Frankfurter Rundschau 2009; vgl. HHStAW, Best. 202, Nr. 634; vgl. Russ 2005, 11). Die Grundsteinlegung verzögerte sich deshalb bis zum 22. Juni 1817 (vgl. HHStAW, Best. 202, Nr. 634). Nach einer zweijährigen Bauphase wurde das Kasernengelände fertiggestellt (vgl. Frankfurter Rundschau 2009).

Abb. 1: Grundriss der Infanteriekaserne Wiesbaden um 1866 (Quelle: Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden [HHStAW], Best. 202, Nr. 374).

Die Infanteriekaserne bestand im Kern aus drei mit Schieferdächern gekrönten Gebäuden: Einem Hauptbau sowie je einem rechten und einem linken Flügelbau (vgl. HHStAW, Best. 202, Nr. 1465). Der Kasernenhof diente den Rekruten als Exerzierplatz. Insgesamt umfasste das Gelände eine Fläche von über 30.000 m² und bot Platz für fast 950 Mann (vgl. HHStAW, Best. 202, Nr. 1465; vgl. StadtA WI, Best. WI/2, Nr. 4816).
Nicht nur in Kriegs-, sondern auch in Friedenszeiten war die Kaserne überbelegt und bot oftmals nicht genügend Betten und Raum für die Infanteristen (vgl. HHStAW, Best. 202, Nr. 1465; vgl. HHStAW, Best. 3004, Nr. A 101). Nachdem um 1815, kurz vor Beginn der Bauarbeiten, die allgemeine Wehrpflicht eingeführt wurde, vergrößerte sich das Heer schlagartig (vgl. Neuner 2009, 31). Den Großteil der Rekruten bildeten fortan Teilzeit-Soldaten, die in Friedenszeiten ihren bürgerlichen Berufen nachgingen. Für die Zeit ihrer Stationierung in der Wiesbadener Kaserne befanden sich die Soldaten gewissermaßen in einer liminalen Position, die ihre bürgerliche Rolle kurzzeitig aufhob (vgl. Neuer 2009, 33; vgl. Turner 2005, 95): Durch die Verleihung von Dienstgraden, homogenen Uniformen und Dienstvorschriften wurden die als tauglich befundenen Bürger Wiesbadens klassifiziert und temporär einander gleichgesetzt (vgl. Bowker & Star 2016, 187f., 192; vgl. Turner 2005, 96). In dieser Zeit war die Kaserne für sie ein von der übrigen Stadt weitestgehend abgegrenzter Lebensraum. Sobald sie jedoch ihre Ausbildungen beendeten und ihren eigentlichen Berufen nachgingen, war der Ort für die Teilzeit-Soldaten wieder eine Tabuzone. Für ein alltägliches Nutzbarmachen des semi-öffentlichen Raums, die „Einnischung[1]“ (Toepfer 2011, 676), blieb (zu) wenig Zeit. Das Einleben wurde auch von den strengen Normen und Regeln behindert, mit denen die Soldaten innerhalb des Militärbetriebs konfrontiert waren. Von der Einberufung über die Verpflegung bis hin zur Entlassung war alles penibel geplant und rechtlich festgeschrieben (vgl. HHStAW, Best. 202, Nr. 1510).
Die pompöse Fassade der Wiesbadener Infanteriekaserne suggerierte, es handele sich bei dem Gelände um ein Glanzstück nassauischer Militärplanung und -ausbildung. Erst wenn man einen Blick hinter den schönen Schein warf, erkannte man, dass die vorgesehene Ordnung in jedem Winkel des Geländes gestört war. Die zahlreichen Regelungen, die die Gesundheit und das Wohlbefinden der Infanteristen garantieren sollten, wurden den Gegebenheiten vor Ort zu wenig angepasst und nicht ausreichend finanziert. Der Mangel an Aufmerksamkeit und Geldmitteln von Seiten des Kriegs-Departements riss immer wieder neue Löcher in das Netz aus Infrastrukturen, durch das die einfachen Soldaten hindurch fielen (vgl. Niewöhner 2014, 341–345; vgl. Toepfer 2011, 670). In dem abgesteckten Bereich zwischen Mauern und Wänden ereigneten sich, halb verborgen vor den Augen der Öffentlichkeit, Schäden, Erkrankungen und Tode. Genau wie die vielen Hinterhöfe der wachsenden Stadt bildete auch das Innenleben der Garnison „die Rück-, Kehr- und Schattenseite“ (Schroubek 2008, 229) der bürgerlichen Existenz. In diese hinterhöfischen Lücken im System waren die Männer für die Dauer ihrer Ausbildung eingesperrt. So mutierte die als Vorzeigebau geplante Infanteriekaserne rasch zu einem Hinterhof der Stadt Wiesbaden. Unabsichtlich verwandelte sich der Ort mehr und mehr in einen „Nicht-Ort“ (Augé 1994, 92–94), der eher eine Nische für Bakterien und Viren als für seine Bewohner bot.
Während ihrer Ausbildungszeit in der Kaserne waren Krankheiten die ärgsten Feinde der Soldaten. Zur Kriegsbeteiligung der dort stationierten Regimente kam es nur ausgesprochen selten. Zumeist lag die Institution sinnentleert am Rand der pulsierenden Stadt. Bis weit ins 19. Jahrhundert gab es noch keinerlei medizinische Standards für Kasernen und die dazugehörigen Militärhospitäler. Die Regiments- und Stabsärzte erlangten ihr medizinisches Wissen nicht über eine geregelte Ausbildung, sondern tradierte Praxiserfahrungen (vgl. Harrison 2009, 11f.). Erst mit bedeutenden Fortschritten im 19. Jahrhundert, insbesondere auf dem Gebiet der Bakteriologie, entwickelte sich allmählich ein Bewusstsein dafür, dass Hygiene ein wichtiger Bestandteil der Gesundheit ist (vgl. Harrison 2009, 11; vgl. Reinhard 2006, 158).
Unter dem Eindruck der neuen Erkenntnisse wurde das Fehlen einer Bade- und Waschanstalt in der Garnison als Problem erkannt. Die Infanteristen konnten sich in der Anlage lediglich durch „Sturzbäder“ (Best. HHStAW, 202, Nr. 289) erfrischen und waschen. Dabei handelte es sich um eine Art kurze Dusche, bei der den Männern für wenige Sekunden Wasser über den Leib geschüttet wurde. Im Sommer wichen die Soldaten deshalb auf den direkt hinter der Kaserne fließenden Wellritzbach aus (vgl. HHStAW, Best. 202, Nr. 289). Das Gewässer war jedoch stark verschmutzt (vgl. Koch, Seelos & Silberzahn 2015, 5). Immer wieder traten Infanteristen im schlammigen Wasser auf Scherben und im Winter, wenn die Bäche zufroren, bot sich den Soldaten kaum Gelegenheit zur Körperpflege (vgl. HHStAW, Best. 202, Nr. 289). In Folge dieser „Unreinlichkeit“ behandelten die Regimentsärzte „Heer[e] von Krätzkranken und Fußgeschwüren“ (HHStAW, Best. 202, Nr. 289). In weniger als drei Jahren verarzteten die Mediziner allein über 100 an „Schwüren“ (HHStAW, Best. 202, Nr. 289) erkrankte Infanteristen, entweder in deren Quartieren oder, in besonders schlimmen Fällen, im 1829 errichteten Militärhospital, das für die vielen Kranken schon bald zu klein war (vgl. Frankfurter Rundschau 2009). 1838 musste ein größeres Hospital auf dem Kasernengelände, direkt an der Schwalbacher Straße, eröffnet werden, um den nicht abreißenden Strom von Patienten zu versorgen (vgl. Frankfurter Rundschau 2009).
Manche der eingezogenen Männer kamen aus so niederen Ständen und ärmlichen Zuständen, dass sie „weder Schuhe noch Hemden oder Unterhosen“ (HHStAW, Best. 202, Nr. 1510) mitbrachten und erst in der Kaserne damit ausgestattet wurden. Mit einem Satz Kleidung mussten die Infanteristen teils Monate oder sogar Jahre auskommen (vgl. HHStAW, Best. 202, Nr. 1510; vgl. Reinhard 2006, 132).

Wenn es tagsüber regnete, kehrten die Soldaten völlig durchnässt in ihr kaltes Quartier[2] zurück. Da die Gebäude auf abschüssigem Grund errichtet worden waren und bedeutend tiefer lagen als die angrenzende Bleichstraße, konnten Regen- und Tauwasser nicht abfließen und setzten den Kasernenhof bei schlechtem Wetter unter Wasser (vgl. StadtA WI, Best. WI/2, Nr. 3469). Den Infanteristen war es unter diesen Umständen unmöglich ihre Kleidung trocken zu halten. Die Kohlen, die sie zum Beheizen der Öfen verwendeten, waren bereits „Abends gegen 8 Uhr […] zum größten Theil verbraucht“ (HHStAW, Best. 202, Nr. 368), sodass zu wenige für die Nacht und den folgenden Vormittag übrigblieben. Decken wurden ausgeteilt, um die gröbste Not zu lindern, doch auch sie reichten nicht für die Hundertschaft an Soldaten (vgl. HHStAW, Best. 202, Nr. 1465).
Es war offensichtlich, dass darin eine Ursache für die auffällig vielen Erkältungen und Grippe-Erkrankungen unter den auf den Speichern einquartierten Soldaten lag (vgl. HHStAW, Best. 202, Nr. 368). Die Kasernenverwaltung bat deshalb das Kriegs-Departement um Gelder für mehr Heizmaterial und eine Verschalung der Speicherdecken (vgl. HHStAW, Best. 202, Nr. 368; vgl. HHStAW, Best. 202, Nr. 1465). Der Oberstabsarzt der Infanteriekaserne schilderte zu diesem Zweck im Herbst 1853 seine Beobachtungen:

„Obgleich in hiesiger Garnison, wie überall, im […] September der Krankenstand sehr gering war […], so waren doch, wie auch Herr Regimentsarzt Dr. Mahr bemerkte, unter der auf diesen Speichern einquartierten Mannschaft Erkrankungen häufiger. Bei meiner Besichtigung der fraglichen Räume, namentlich während der stürmischen Tage herrschte darin eine so starke Zugluft, daß die Klagen der Soldaten, daß sie theils […] vor Kälte, theils vor dem Getose des Windes nicht schlafen könnten, wohl zu begreifen war. Bei einem Morgenbesuche an einem […] warmen Tage, als die Mannschaft eben aufgestanden war, fand ich in diesen allzu niedrigen Räumen eine heiße, dicke, kaum athembare Luft“ (HHStAW, Best. 202, Nr. 1465).

Er schließt seinen Brief mit der Prophezeiung, dass die Speicher „für die Gesundheit der […] Mannschaft nachtheilig sind und daß sie, wenn gerade einmal ein ungünstiger genius epidemicus herrschen sollte, der Herd einer […] Epidemie werden würden“ (HHStAW, Best. 202, Nr. 1465).
Eine weitere Gefahrenquelle für die Soldaten befand sich in der unmittelbaren Nachbarschaft. 1850 wurden die städtischen Bullenställe auf dem angrenzenden Kasernenacker eröffnet (vgl. HHStAW, Best. 202, Nr. 374; vgl. KulTour & Mehr 2020). Tierische Abfälle und Austritte wurden in Wiesbaden und anderen großen Städten oftmals nur fahrlässig entsorgt, sodass der Boden kontaminiert war (vgl. Brandt & Grothe 2005, 43f.; vgl. Neese 2016, 168, 173). Solche Vorgänge beäugten die Mediziner zunehmend kritisch. Schon kurz nach der Inbetriebnahme des Bullenstalls begann ein Disput zwischen den Ärzten der Infanteriekaserne, ob das Wasser der umliegenden Brunnen nun noch zu verwenden sei und wenn ja, zu welchem Zweck. Während der Regimentsarzt vor der Verwendung des Brunnenwassers warnte, sah der Oberstabsarzt darin keine Gefahr, auch wenn der Gestank des Rindermists nicht zu ignorieren war (vgl. HHStAW, Best. 202, Nr. 289; vgl. KulTour & Mehr 2020).

Abb. 2: Frontansicht der Infanteriekaserne um 1840 (Quelle: Stadtarchiv Wiesbaden, digitales Multimediaarchiv).

Der Geruch von Fäkalien drang allerdings nicht nur von außen in die Kaserne ein. Die auf dem Gelände gehaltenen Pferde und insbesondere die Hundertschaft an Soldaten produzierten eine Masse an Exkrementen, die anders als heute in nur selten entleerten Abtrittgruben gesammelt wurde. Um dem Gestank entgegenzuwirken, bauten die Infanteristen um 1850 das Fenster des Latrinenbaus aus (vgl. HHStAW, Best. 202, Nr. 368). Der Pferdedung wurde an den Rand des Geländes verfrachtet. In der Kaserne war es üblich, ohne Genehmigung der Stadt Schutt und Müll an einem Platz nahe dem Geschützschuppen, direkt an der Bleichstraße, zu lagern (vgl. StadtA WI, Best. WI/2, Nr. 3469). Um dem ein Ende zu machen, trat 1877 der Bürgermeister Wilhelm Lanz mit einem Auftrag an die städtische Polizei heran:

„Das dem Militärfiskus zustehende Grundstück in der vorderen Bleichstraße wird zur Ablagerung von Unrath benutzt und sind deshalb schon öfters Klagen von den benachbarten Hausbesitzern geführt worden. Königliche Polizei-Direction ersuche ich ergebenst zufolge Gemeinderathsbeschlusses vom 5. d. Mts. die Absperrung und Einzäunung dieses Grundstücks veranlassen zu wollen“ (StadtA WI, Best. WI/2, Nr. 3469).

Schlussendlich wurde eine Mauer um den entsprechenden Bereich erbaut (vgl. StadtA WI, Best. WI/2, Nr. 3469). Es erschien der Stadt wichtiger, die Übel und damit auch das Innenleben der Kaserne zu verbergen, als die eigentlichen Probleme zu beseitigen. Die Errichtung einer Mauer um das Gelände machte lediglich unsichtbar, was die Bevölkerung des Westends olfaktorisch und in seinen epidemischen Auswirkungen weiterhin deutlich wahrnahm. 1891 schlossen sich verärgerte Anwohner*innen und Passant*innen der Bleichstraße zusammen und schrieben einen Leserbrief an das Wiesbadener Tagblatt:

„Während unsere städtische Verwaltung es sich Millionen kosten läßt, die sanitären Einrichtungen der Stadt zur höchstmöglichen Vollkommenheit zu bringen und während man seitens der Einwohnerschaft diese Absicht bereitwilligst, trotz großer Kosten, unterstützt, werden die Anwohner und Passanten der vorderen Bleichstraße seit ungefähr zwei Wochen durch einen über die Umfassungsmauer der Kaserne dringenden infernalischen Geruch derart belästigt, daß man nur mit Widerwillen jene Stelle passiert, geschweige denn in der Nähe ein Fenster öffnet“ (HLB Wiesbaden, Best. Wiesbadener Tagblatt, Nr. 207, 05.09.1891).

Auch wenn hin und wieder Missstände an und in der Infanteriekaserne behoben wurden, blieb sie doch immer das Sorgenkind der Stadt. Das Einfassen der angrenzenden Bäche in Kanäle änderte nichts daran (vgl. Koch, Seelos & Silberzahn 2015, 26; vgl. Sensor 2014). Nach der Typhusepidemie von 1885 wandelten sich das Verständnis und die Ansätze der Stadthygiene langsam (vgl. Koch, Seelos & Silberzahn 2015, 18f.), innerhalb der Kaserne jedoch kaum. Während die Seuche von innen nach außen drang, schien wenig Bewegung von außen in die Garnison hinein zu gelangen. Sie blieb so lange eine Nische für die Typhuskeime, bis die Politiker die radikale Veränderung beschlossen, nach der sich auch die Bewohner*innen des mittlerweile dicht besiedelten Westends sehnten. Im neuen Jahrhundert wurde das Gelände vom Militärfiskus an die Stadt verkauft und die Infanteristen in die Gersdorff-Kaserne an der damals noch teils unbebauten Schiersteiner Straße verlegt (vgl. StadtA WI, Best. WI/2, Nr. 4816). Die alten Gebäude zwischen der Dotzheimer Straße, Schwalbacher Straße und Bleichstraße wurden 1911 größtenteils abgerissen (vgl. Frankfurter Rundschau 2009). Etwa zeitgleich setzten sich die wenige Jahre zuvor entwickelten Impfstoffe gegen Typhus in der Bevölkerung durch und beendeten damit den Siegeszug der Seuche (vgl. HHStAW, Best. 405, Nr. 360).
An der Stelle, an der die ehemalige Infanteriekaserne stand, befindet sich heute der Platz der Deutschen Einheit. Dort, wo im 19. Jahrhundert Soldaten exerzierten, frönen heute Besucher*innen ihrer Freizeit. Wo kranke Rekruten in ihren Betten wimmerten, essen Schüler*innen zu Mittag. Der einzige Überrest der Garnison – das sanierte Militärhospital – wird von der Elly-Heuss-Schule als Mensa genutzt und ist in seiner neuen Funktion aufgegangen (vgl. Frankfurter Rundschau 2009). Die ehemalige Infanteriekaserne ist als liminaler Ort verschwunden und in Vergessenheit geraten.
Die Folgen der Epidemie, die jenen Mauern entsprang, bestehen hingegen fort: Die nach dem Hochsommer 1885 in aller Eile errichtete Schwemmkanalisation wird in Teilen bis heute verwendet. Die Stadt bemüht sich mit dem Projekt „Bäche ans Licht“ sogar um eine Wiedersichtbarmachung der dabei unter die Erde verlegten Wasserläufe (vgl. Sensor 2014). Auf dem Platz der Deutschen Einheit schlängelt sich ein Arm des ehemals durch die Wiesen des frühen Westends fließenden Kesselbaches in einem künstlichen Kanal (vgl. Wiesbaden 2020). Auch in der Bleichstraße soll eine circa einen halben Meter breite und 20 Zentimeter tiefe Rinne verlegt werden, durch die wieder das (mittlerweile deutlich sauberere) Wasser des Wellritzbaches sprudeln wird (vgl. Sensor 2014). Bäche gelten im heute nach wie vor dicht besiedelten Westend nicht mehr als todbringende Bedrohung, sondern als Verschönerung und „Lebensadern“ (Wiesbaden 2013) der Stadt. Was die Ausdehnung des Westends und der Typhus vor fast 150 Jahren unter die Erde zwangen, kann dank moderner Medizin und Städtehygiene wieder sichtbar gemacht werden.
Sauber und ungefährlich ist der Ort zwischen der Dotzheimer Straße, Schwalbacher Straße und Bleichstraße dennoch nicht. Im Westend und darüber hinaus ist der Platz der Deutschen Einheit als Problemzone berüchtigt. Vielleicht dient er weiterhin als Hinterhof der Landeshauptstadt, wenn auch einer moderneren Art?[3]

[1] Der Begriff der Einnischung stammt aus der Biologie und wird dort in der Regel als innovative Nutzbarmachung einer geteilten Umwelt aufgefasst (vgl. Toepfer 2011, 676). Sie „verschafft den Individuen, die die neue Nische besetzen, einen Selektionsvorteil, auch wenn sie in anderer Hinsicht benachteiligt sind“ (Toepfer 2011, 676). Im dem hier verwendeten urban-sozialen Kontext steht nicht das Überleben einer Art, sondern das alltägliche Leben, insbesondere die Interaktion von Einzelnen im und mit dem städtischen Umfeld im Vordergrund. Einnischung, meint hier somit eine Form der Lebensgrundlage sowie eine an die Nische angepasste Routine und Position im sozialen Gefüge.

[2] Zum Begriff des „Quartiers“ siehe u.a. Schnur (2012).

[3] Siehe hierzu den Beitrag von Jana Gries zum Platz der Deutschen Einheit auf dieser Projektseite.

Literatur

Brandt, Hartwig & Grothe, Ewald (Hg.) (2005). Quellen zur Alltagsgeschichte der Deutschen. 1815–1870 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe, 44). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Harrison, Mark (2009). Krieg und Medizin im Zeitalter der Moderne. In: Larner, Melissa; Peto, James & Schmitz, Colleen M. (Hg.). Krieg und Medizin (11–29). Göttingen: Wallstein-Verlag.

Koch, Fritz, Seelos, Christian & Silberzahn, Joachim (2015). Geschichte Kanalisation und Klärwerk in Wiesbaden. Vom 19. Jahrhundert bis heute (hg. v. ELW, Entsorgungsbetriebe der Landeshauptstadt Wiesbaden, 52 Seiten). https://www.elw.de/uploads/tx_kemtemplateelw/Geschichte_Kanalisation_und_Klaerwerk.pdf [08.03.2021].

Kopp, Klaus (1986). Wasser von Taunus, Rhein und Ried. Aus zwei Jahrtausenden Wiesbadener Wasserversorgung (hg. v. Stadtwerke Wiesbaden Aktiengesellschaft). Wiesbaden: Stadtwerke-Wiesbaden-AG.

KulTour & Mehr (o. A.). Reportagen. Rund um die „Bullenställe“. http://www.kultour-und-mehr.de/die_bullenstalle.html [10.03.2021].

Neese, Bernd-Michael (2016). Beiträge zur Geschichte der Stadt Wiesbaden im 19. Jahrhundert. Band 2. Wiesbaden: Thorsten Reiß Verlag.

Neuner, Stephanie (2009). Medizin und Militär in der Moderne. Deutschland 1814–1918. Eine Einführung. In: Larner, Melissa; Peto, James & Schmitz, Colleen M. (Hg.). Krieg und Medizin (30–43). Göttingen: Wallstein-Verlag.

Niebergall, Rainer (2012). Das Westend. Von Hinterhöfen und sozialem Wohnungsbau. Wiesbaden: o.V.

Niewöhner, Jörg (2014). Perspektiven der Infrastrukturforschung: care-ful, relational, ko-laborativ. In: Lengersdorf, D. & Wieser, M. (Hg.). Schlüsselwerke der Science & Technology Studies (341-352). Wiesbaden: Springer VS.

Reinhard, Wolfgang (2006). Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie. München: C. H. Beck.

Russ, Sigrid (2005). Kulturdenkmäler in Hessen. Wiesbaden I.2. Stadterweiterungen innerhalb der Ringstraße. Landesamt für Denkmalpflege Hessen (Hg.). (Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland). Stuttgart: Theiss u.a..

Schnur, Olaf (2012). Nachbarschaft und Quartier. In: Eckardt, Frank (Hg.). Handbuch Stadtsoziologie (449–474). Wiesbaden: Springer VS.

Schroubek, Georg R. (2008). Beletage und Hinterhof. Gemeinsames Wohnen in einer geschichteten Gesellschaft. In: Ders. (Hg.). Studien zur böhmischen Volkskunde (219–230). Münster u.a.: Waxmann.

Sensor (2014). Auf Wasser gebaut. Wiesbaden holt seine Bäche ans Licht. https://sensor-wiesbaden.de/auf-wasser-gebaut-wiesbaden-holt-seine-bache-ans-licht/ [10.03.2021].

Toepfer, Georg (2011). Nische. In: Ders. (Hg.). Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe (669–680). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Turner, Victor (2005). Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a. M. u.a.: Campus Verlag.

Wiesbaden (2013). Fließgewässer – Lebensadern unserer Stadt. https://www.wiesbaden.de/leben-in-wiesbaden/umwelt/wasser/fliessgewaesser-start.php [10.03.2021].

Wiesbaden (o. A.). Bachabschnitt Quartierplatz. https://www.wiesbaden.de/leben-in-wiesbaden/umwelt/wasser/offener-bachabschnitt.php [10.03.2021].

Quellen

Frankfurter Rundschau (2009). Schwalbacher Straße. Vom Feldweg zur Verkehrsachse. https://www.fr.de/rhein-main/wiesbaden/garten-sti127680/feldweg-verkehrsachse-11511725.html [10.03.2021].

Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW), Best. 202, Nr. 289 (Bewilligung des Baus einer Bade- und Waschanstalt bei der Infanteriekaserne zu Wiesbaden. Laufzeit 1852–1857).

Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW), Best. 202, Nr. 368 (Unterhalt und Verwaltung der Kaserne zu Wiesbaden. Band 2. Laufzeit 1851–1857).

Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW), Best. 202, Nr. 374 (Bauliche Unterhaltung der Militärgebäude zu Wiesbaden. Band 3. Laufzeit 1849–1867).

Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW), Best. 202, Nr. 634 (Klagesachen des Maurermeisters Friedrich Birk in Mosbach gegen das Generalkommando wegen Forderungen aus Arbeiten zum Bau der Infanteriekaserne in Wiesbaden. Laufzeit 1817-1833).

Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW), Best. 202, Nr. 1465 (Umbau der Speicher der Flügelgebäude der Infanteriekaserne zu Wiesbaden zu Räumen für die Mannschaften. Laufzeit 1853–1856).

Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW), Best. 202, Nr. 1510 (Generalbefehle zur Organisation der Infanterie. Laufzeit 1804–1853).

Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW), Best. 405, Nr. 360 (Typhus und Ruhr. Laufzeit 1871–1929).

Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW), Best. 405, Nr. 531 (Typhusepidemie in Wiesbaden im Jahre 1885 und Verbesserung der gesundheitlichen Verhältnisse in dieser Stadt. Laufzeit 1885–1887).

Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW), Best. 405, Nr. 8779 (Maßregeln beim Ausbrechen epidemischer Krankheiten, insbesondere des Typhus in der Stadt Wiesbaden. Laufzeit 1873–1885).

Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW), Best. 3004, Nr. A 101 (Kriegserinnerungen des Mühlenbesitzers Jakob Pfeiffer in Diez von der 8. Kompagnie des Königlich Preußischen Infanterie-Regiments Nr. 80 aus dem Krieg 1870/71. Laufzeit 1870–1871 [1913]).

Hochschul- und Landesbibliothek RheinMain (HLB) Wiesbaden (o. A.), Best. Wiesbadener Tagblatt, Nr. 207 (o. A).

Stadtarchiv Wiesbaden (StadtA WI), Best. WI/2, Nr. 1807 (Typhus 1885. Gutachten der Untersuchungs Commission. Laufzeit 1885).

Stadtarchiv Wiesbaden (StadtA WI), Best. WI/2, Nr. 1808 (Typhus-Epidemie 1885. Zeitungsausschnitte. Laufzeit 1885–1886).

Stadtarchiv Wiesbaden (StadtA WI), Best. WI/2, Nr. 3469 (Die Eintheilung des Terrains zwischen der Infanterie-Caserne, Hellmundstraße und Bleichstraße, behufs Aufstellung eines Special-Bebauungsplanes. Laufzeit 1875–1877).

Stadtarchiv Wiesbaden (StadtA WI), Best. WI/2, Nr. 4816 (Vertrag mit dem Militärfiskus über den Erwerb von Teilen des Artilleriekasernen-Grundstücks und des alten Infanterie-Kasernen-Grundstücks durch die Stadt. Laufzeit 1905–1909).

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