„Ein typischer Hinterhof“ –
Feldforschung mit Hindernissen
„Ein typischer Hinterhof“ –
Feldforschung mit Hindernissen
Wer Hinterhöfe erforscht, sucht auch die Begegnung mit den Menschen, die sich an diesen Orten aufhalten und die sie gestalten oder gar schützen wollen. In Zeiten einer globalen Pandemie, in denen Sicherheitsabstand auf der Tagesordnung steht, bringt ein ethnographischer Forschungsansatz Herausforderungen mit sich, die nicht leicht zu bewältigen sind. Der nachfolgende Text handelt von dem Versuch, einen Projektbeitrag zu schreiben und von den Erkenntnissen, die im Nichtgelingen zu finden waren. Ein Drama in fünf Akten.
Timo Knecht
Prolog Die Projektarbeit stand im Jahr 2020 ganz im Zeichen der Coronapandemie. Wegen der weltweiten Kontaktbeschränkungen konnte das Projektteam nur selten im Wiesbadener Westend zusammenkommen und vor Ort forschen. Auf Fremde zuzugehen ist in der Feldforschung oft schon an sich eine Herausforderung. Die Pandemiebeschränkungen hoben diese Herausforderung auf ein neues Level. Zur Angst des Forschers vor dem Feld kam noch die Angst vor dem Virus hinzu. Alternative Möglichkeiten der Feldforschung mussten her. Videokonferenzen wurden fester Bestandteil des neuen Studierendenalltags. Klar war jedoch auch, dass in einem Projekt zur Stadtforschung nicht alles digital stattfinden kann. So wurden wir dazu ermutigt, das Viertel in Kleingruppen zu erkunden. Wir nutzten verschiedene Strategien der Stadtteilethnographie, die sich der Ansätze des ästhetischen Forschens bedienten (vgl. Kämpf-Jansen 2012; Peters 2013). Mit Erkundungsexperimenten gelangen uns, trotz Pandemie, aufschlussreiche Begegnungen und dichte Beschreibungen des Stadtteils. Um aber die titelgebende „urbane Nische“ Hinterhof zu erforschen, gilt es auch an diejenigen heranzutreten, die dort wohnen, arbeiten und leben. Was passiert, wenn das inmitten eines Lockdowns nicht gelingt und was lässt sich dabei trotz alledem über den „Hinterhof Westend“ in Erfahrung bringen? Im nachfolgenden Beitrag möchte ich von meinen Erfahrungen und Herausforderungen beim Schreiben einer Hinterhofgeschichte berichten. Ich bin dabei selbst zum Protagonisten dieser Geschichte geworden. Sie handelt von einer „urbanen Nische“ des Westends, vor allem jedoch von meiner Beziehung zu einem Menschen, der dort heimisch ist. Mein Bericht gestaltet sich als ein Drama in fünf Akten. In die einzelnen Szenen fließen Zitate, E-Mails oder Notizen aus meinem Feldforschungstagebuch ein. Sie bieten die Möglichkeit, einen Blick hinter die Kulissen unserer Forschungsarbeit zu werfen und die Unberechenbarkeit einer Stadtteilethnographie nachzuvollziehen.
Akt 1: Expeditionen: Die Entdeckung eines Hinterhofs
Meine Hinterhofgeschichte beginnt im Juni 2020. In diesem, von ersten Lockerungen geprägten Monat war es mir möglich, ein Interview mit dem Ortsbeiratsmitglied und Westend-Urgestein Peter Schickel zu führen (Szene 1). Gemeinsam mit einer kleinen Gruppe Studierender begaben wir uns auf einen Rundgang durch das Viertel und bekamen dabei Einblicke, die bei vorherigen Rundgängen ohne einheimische Unterstützung noch im Verborgenen verblieben waren.
Szene 1: Westend-Rundgang mit Peter Schickel
Schickel: „Hier gab´s einen Dachdecker, ein Dachdeckerunternehmen […]. Das war die ‚Dachdeckerei […]‘, das waren Brüder. Das wird, also was hier an Werkstätten ist, das wird heute vor allem auch als Garagen genutzt. Lasst uns das mal anschauen“ (Projekt Urbane Nischen, Feldtagebuch).
Wir begaben uns bei dem Rundgang auf eine Spurensuche nach alten Handwerksbetrieben, wie sie in den Hinterhöfen des Westends früher häufiger ansässig waren. Manche Hinterhöfe waren verschlossen, andere aber standen offen und konnten von uns betreten werden. In einem eröffnete sich uns ein faszinierendes Bild: Inmitten des Hinterhofes war ein wunderschöner Rosengarten angelegt worden. Zwischen Vorder- und Hinterhaus erstreckten sich alte Wäscheleinen.
Am Anfang des Projekts hatten wir durch Literatur und Fotos schon einiges über die Hinterhöfe im Westend in Erfahrung bringen können. Sie nun zu betreten, erweiterte meinen Horizont. Ich konnte den Titel des Projektes „Urbane Nischen“ nun besser verstehen: Sie sind mitten in der Stadt und werden „von der Gesamtheit der urbanen Umwelt direkt und indirekt mitgeformt“ (Roth 2021). Jedoch sind sie dabei Orte mit klar abgegrenzter Ordnung und Stabilität, in denen „das Gesetz des Eigenen gilt“ (de Certeau1988, 218). Wir trafen auf die Hauseigentümerin.
Szene 2: Im Hinterhof, Auftritt Hauseigentümerin (S.):
S.: „Darf ich Sie mal fragen, was Sie hier machen?“
Rundgang-Gruppe: „Wir schauen uns die Hinterhöfe an.“
S.: „Da sollte man aber vorher mal fragen, bevor man einfach vorbeikommt und Fotos macht. Wir haben hier im Viertel teilweise Probleme mit Kriminalität, ich habe ja nicht umsonst Sicherheitsschlösser installiert“ (Projekt Urbane Nischen, Feldtagebuch).
Etwas naiv hatten wir bei unserem Rundgang angenommen, dass es die Anwohner:innen nicht weiter stören würde, wenn wir uns die Hinterhöfe kurz anschauen würden. Der Ort Hinterhof ist jedoch „ein abgeschlossener, unmissverständlich eigener, unzugänglicher Privatraum“ (Roth 2021), in den wir ungefragt eingetreten waren. Hier ergaben sich also erstmals Konflikte mit den Menschen, deren Geschichten wir gern erzählen wollten oder von denen wir uns zumindest Zugang zum Forschungsgegenstand versprachen. Wir verließen in der Folge den Hinterhof, verblieben mit der Hauseigentümerin aber im Guten. Zudem waren wir durch das kurze Gespräch an Informationen reicher geworden. Somit konnte ich die erste Projektphase erfolgreich abschließen: Ich hatte das Westend vor Ort kennengelernt und dabei eine Nische entdeckt, die ich genauer untersuchen wollte.
Akt 2, 1. Teil: Ein typischer Westend-Hinterhof
Im Zwischenraum von Vorder- und Hinterhaus liegt der Hinterhof. Er ist damit ein Raum „zwischen den Bauten“ (Fendt 2011, 165), der aus der Blockrandbebauung des späten 19. Jahrhunderts hervorgegangen ist. Die freigelassene Fläche sollte für eine „Entlüftung“ (Russ 2005, 17) der Gebäude sorgen. Nun ist für unsere Forschung jedoch nicht allein die besondere Architektur dieser Orte von Interesse, sondern vielmehr, welche Bedeutungen und Funktionen ihnen zugeschrieben werden (vgl. Roth 2021). Dies bedeutete für mich, herauszufinden, welche Rolle der Hinterhof im Leben der Anwohner:innen spielt. Mein besonderes Interesse galt dabei der Hauseigentümerin, die selbst im Haus wohnt. Das prägt die Hausgemeinschaft (Szene 3). Zu meiner Freude empfing sie mich zu einem Gespräch.
Szene 3: Ort: Hinterhof, Vorgespräch mit Hauseigentümerin (S.)
S.: „Ich bin da nicht aufs Sozialamt angewiesen, weil die Miete recht günstig ist. Da kann ich mir selbst aussuchen, wen ich hier ins Haus lasse. Das ist mir auch wichtig, weil ich ja selbst hier wohne“ (Projekt Urbane Nischen, Feldtagebuch).
Bei diesem zweiten Besuch machte ich vor Ort nochmals einige aufschlussreiche Beobachtungen, die ich mit den Informationen aus dem Gespräch ergänzen konnte. Dieser Hinterhof, das wurde mir klar, weist viele für das Westend typische Eigenschaften auf: Hier zeigt sich beispielsweise die chronische Parkplatznot, die im Westend herrscht. Auch dieser Hof wird von den begehrten Privatparkplätzen eingenommen. Vielmehr noch dient der Hinterhof jedoch als Fahrradabstellplatz, ein Hinweis darauf, dass das Fahrrad im Westend als beliebtes Fortbewegungsmittel gilt (vgl. Landeshauptstadt Wiesbaden 2019a, 7). Zu ihrer Entstehungszeit dienten viele Hinterhöfe als Arbeitsräume. In den rückseitig gelegenen Anbauten befanden sich Werkstätten und Lagerräume (vgl. Niebergall 2012, 77). Wie in diesem Hinterhof gibt es sie auch heute teilweise noch. So traf ich bei meinem Besuch auch auf einen Handwerkermeister im Ruhestand, der noch immer im Hinterhaus wohnt. Wie im gesamten Westend leben viele Menschen auf sehr engem Raum zusammen, was nicht zuletzt der baulichen Struktur von Hinter- und Vorderhaus geschuldet ist. Nach Angaben der Hauseigentümerin begegnen sich die Menschen eher zufällig im Treppenhaus oder im Hinterhof. So zeigt sich auch im Westend, dass die Großstadt trotz oder gerade wegen der dichten Besiedlung eine gewisse Anonymität bietet (vgl. Spitthöver 2002, 85). Die Bevölkerungsstruktur des Westends ist multikulturell geprägt, was sich auch an den Anwohner:innen des ausgewählten Hauses zeigt, die aus den verschiedensten Ländern stammen. Die Wohnungen sind sehr begehrt, was auf den Zuzug in die Stadt und die Wohnungsknappheit im Viertel hinweist (vgl. Landeshauptstadt Wiesbaden 2019b, 27f.). Zudem ist eine hohe Fluktuation zu beobachten, das heißt, dass es im Haus häufig zu Aus- und Neueinzügen kommt. Das Westend war und ist noch immer ein „Durchgangsviertel“ (Wunderer 1996, 109).
Akt 2, 2. Teil: Komplizierte Orte, komplizierte Gespräche
Nach diesem zweiten Gespräch mit der Hauseigentümerin war ich überzeugt: „Diese Hinterhofgeschichte schreibt sich von selbst“. Jedoch wird aufmerksam Lesenden bereits aufgefallen sein, dass ich die Adresse des betreffenden Hinterhofs bisher anonymisiert habe. Dies liegt zunächst daran, dass sich die Hauseigentümerin bald um ihre Persönlichkeitsrechte besorgt zeigte. Wir versicherten ihr zwar, dass ihre persönlichen Daten von uns mit der gebotenen Sorgfalt und Rücksicht behandelt würden. Trotzdem legte sie Wert darauf, namentlich nicht genannt zu werden. Des Weiteren fürchtete sie, dass der Hinterhof im Anschluss an die Veröffentlichung unserer Beiträge zu einer Art Touristenattraktion werden könnte. Es waren solche Aussagen, die mich zu einem möglichen Schwerpunktthema für den Projektbeitrag führten: „Der Hinterhof als sicherer Rückzugsort“.
Schon bei unserer ersten Begegnung wurde deutlich, dass die Hauseigentümerin einen großen Wert auf den Schutz des Hinterhofs vor der Außenwelt legt. Es war nur dem Zufall geschuldet, dass das Hoftor bei unserem Rundgang offenstand, da normalerweise Sicherheitsschlösser das Betreten des Geländes verhindern (Szene 2). Sie begründete dies mit der Kriminalität im Viertel. Sie war in der Folge auch nicht gerade erfreut über unseren Besuch. Im zweiten Gespräch verfestigte sich der Eindruck, dass dieser Hinterhof als ein Rückzugsort in einem Problemviertel wahrgenommen wird (Szene 4).
Szene 4: Ort: Hinterhof, Vorgespräch mit Hauseigentümerin (S.)
S.: „Als ich neulich einer Freundin gesagt habe, sie kann mich auch zwei Straßen weiter rauslassen, da meinte die nur: ‚Du bist wohl verrückt, ich lass dich um die Uhrzeit keine 20 Meter allein durch das Viertel laufen‘“ (Projekt Urbane Nischen, Feldtagebuch).
In diesem Gespräch begegnete mir die Hauseigentümerin zunächst mit etwas Misstrauen. Nach einigen Minuten legte sie dies jedoch ab und erzählte spannende Anekdoten über das Leben in Haus und Hinterhof. Dabei fielen häufiger die Schlagworte „Wohlbefinden“ und „Ruhe“. So erfuhr ich zum Beispiel von einem Fernsehteam, dem die alte Werkstatt im Hinterhof einmal als Kulisse für einen Mord in einem Krimi gedient hatte. Die Dreharbeiten störten die Ruhe im Hof. Die Hauseigentümerin beschrieb, wie sie das Fernsehteam als „Eindringlinge“ empfand. Aussagen wie diese bedeuteten für mich auch, dass ich eher zurückhaltend mit weiteren Anfragen war. Ich wollte nicht, dass die Hauseigentümerin mich, ähnlich wie das Fernsehteam, als Parasit ansehen würde, der ihre Gastfreundschaft ausnutzt und im Gegenzug nichts zurückgibt (vgl. Serres 1981, 14).
Es ist dennoch zu bedauern, dass es mir nicht gestattet war, dieses zweite Gespräch aufzuzeichnen und ich mich mit einem Gedächtnisprotokoll zufriedengeben musste. Gerade solche Geschichten ließen den Hinterhof für mich lebendig werden und ich wollte sie in den Mittelpunkt meiner Hinterhofgeschichte stellen. Dieser verpassten Chance zum Trotz war ich zuversichtlich, dass ich in einem weiteren geplanten Interview diese spannenden Themen bewusst ansprechen könnte.
Akt 3: Wendepunkte: Terminprobleme, Forschungsprobleme
Szene 5: Ort: Schreibtisch, Laptop, E-Mail-Postfach
„Wie Sie schon berichtet haben, ist sie gerade sehr mit Steuer und Verwaltung wegen eines Wasserschadens beschäftigt. Wir haben eben etwas geplaudert. Ich habe den Eindruck, dass sie sich nach wie vor gerne zu Gesprächen bereit erklärt, aber dafür auch den Kopf frei haben möchte und selbst gerne das ein oder andere, was aus der Erinnerung hochkommt, recherchieren und nachschlagen möchte. Darauf nehmen wir Rücksicht, das sind die Bewegungen des Feldes“ (E-Mail von Jonathan Roth; Mittwoch, 7. Oktober 2020).
Ich war mit der Hauseigentümerin in Kontakt geblieben und versuchte, einen weiteren Termin zu einem Gespräch zu vereinbaren, das ich diesmal aufzeichnen wollte. Eine Zeit lang kam es mir vor als würde ich nur noch E-Mails verschicken und Anrufe tätigen, ohne im eigentlichen Forschungsprozess voranzuschreiten. Auch mit dem Projektleiter Jonathan Roth stand ich in dieser Projektphase in beinahe täglichem Austausch (Szene 5/6). Dieser war ebenfalls mit der Hauseigentümerin in Kontakt getreten. Zu meiner Erleichterung zeigte sie sich in der Folge dem Projekt gegenüber aufgeschlossener. Leider kam dem geplanten Interview aber immer wieder etwas dazwischen, sodass der Oktober schon vorübergezogen war, als ich einen enttäuschenden Anruf bekam: Als Reaktion auf den erneuten Lockdown im November sank die Bereitschaft der Hauseigentümerin, sich auf ein Interview einzulassen.
Szene 6: Ort: Schreibtisch, Laptop, E-Mail-Postfach
„Ein persönliches Gespräch vor Ort sollten wir trotz der Umstände versuchen zu realisieren. S. und ihre Fotos und Erinnerungen sind nun mal unsere wichtigste Quelle für diese Hinterhofgeschichte“ (E-Mail von Jonathan Roth; Montag 2. November 2020).
Auch mir erschien ein persönliches Interview die entscheidende Quelle zu sein. Ich wollte etwas über den Ort und die Menschen erfahren, die ihn prägen. Dafür reicht es nicht aus, mittels Fragebögen anonymisierte Daten zu sammeln (vgl. Spiritova 2014, 117). Im Gegensatz zu diesen quantitativen Befragungen wird bei qualitativen Interviews ein längeres, offeneres Gespräch geführt. Ich hatte ein solches Interview schon seit meinem zweiten Besuch geplant. Um das Gespräch zielführend zu gestalten, bereitete ich Leitfragen vor (vgl. Schmidt-Lauber 2001, 176). Die Wahl des Interviewortes überließ ich der Hauseigentümerin. So wollte ich der Befragten entgegenkommen und gewährleisten, dass sie sich beim Interview wohl fühlt (vgl. Spiritova 2014, 123). Gerade vor dem Hintergrund der Coronapandemie hielt ich dies für besonders wichtig. Die Hauseigentümerin schlug vor, das Interview im Hinterhof und mit genügend Abstand zu führen. Über diesen Vorschlag freute ich mich auch deshalb, da ich vor Ort weitere Eindrücke bekommen und in das Gespräch einfließen lassen wollte (vgl. Schmidt-Lauber 2001, 176). Der Hinterhof war als Setting somit ideal.
Szene 7: Ort: Schreibtisch, Laptop, E-Mail-Postfach
„Mehr konnte ich leider nicht aushandeln, da sich S. momentan sehr vor dem Virus fürchtet. Dafür habe ich Verständnis, dennoch ist es natürlich schade“ (E-Mail von Timo Knecht; Donnerstag, 5. November 2020).
„Wir müssen natürlich alle Vorsichtsmaßnahmen einhalten und respektieren den Selbstschutz aller Personen. Wir können froh sein, dass unter diesen Umständen überhaupt ein direktes Gespräch möglich scheint“ (E-Mail von Jonathan Roth; Donnerstag, 5. November 2020).
Nach wochenlangen, zähen Vorbereitungen und unzähligen Anrufen sagte mir die Hauseigentümerin für ein Interview zu (Szene 7). Dafür gab es einige Bedingungen, die ich aber gerne erfüllte. Die Leitfragen wurden vorher zugeschickt, damit die Befragte sich vorbereiten konnte und das Interview nicht unnötig lang würde. Das Projekt schien zurück in der Spur. Doch zu früh gefreut. Noch am Vormittag des Interviewtermins bekam ich einen Anruf von einem Mann aus Oberbayern, der sich als Miteigentümer vorstellte.
Szene 8: Morgen vor dem Interview, Ort: Auto, am Telefon: Miteigentümer (H.), Timo Knecht (T.K.)
H.: „Also gerade so Fragen nach Sicherheit, das können Sie nicht machen. Sie könnten ja sonst wer sein, das ist mir zu gefährlich.“
T.K.: „Ich schicke Ihnen meine persönlichen Daten zu und sage meinem Dozenten Bescheid, dass er Ihnen so schnell wie möglich bestätigen kann, was unser Anliegen ist und dass wir Ihnen nichts Böses wollen. Wäre es möglich, dass Interview nächste Woche an gleicher Stelle nachzuholen?“
H.: „No Way! Das wird so schnell erstmal nichts. Ich habe ja auch zu tun. Ich melde mich wieder bei Ihnen“ (Projekt Urbane Nischen, Feldtagebuch).
Der Miteigentümer des Hauses hatte sich kurzfristig dazu entschieden, das Interview im Namen aller Beteiligten abzusagen (Szene 8). Ich ging in der Folge auf die gestellten Forderungen ein und passte die von H. kritisierten Fragen an. Zudem nahm auch Herr Roth zu H. Kontakt auf und bestätigte per E-Mail den wissenschaftlichen Anlass der Gesprächsanfrage. Trotz mehrfacher Versuche einer weiteren Kontaktaufnahme in den darauffolgenden Wochen, haben wir bis heute leider keine Rückmeldung mehr von H. erhalten und das Interview konnte letztlich nicht stattfinden. Dennoch wollte ich mich nicht so einfach geschlagen geben und bemühte mich auch weiterhin zumindest um ein anonymisiertes, kurzes Telefoninterview mit der Hauseigentümerin. Sie steht so eng mit diesem Ort in Verbindung, dass ohne ihre Stimme keine Hinterhofgeschichte erzählt werden kann. „Urbane Nischen“ stellen nun einmal ein soziales Konstrukt dar, in das die bewohnenden Akteure gestaltend eingreifen (vgl. Roth 2021). In einem Telefongespräch mit der Hauseigentümerin stellte sich dann heraus, dass das Verhältnis zu ihrem Miteigentümer H. angespannt sei und sie dieses nicht weiter strapazieren wolle. Der Kontakt zu ihr wurde dann immer spärlicher, sodass ich mein ursprüngliches Forschungsvorhaben schließlich aufgeben musste.
Akt 4: Das retardierende Moment und die Suche nach Alternativen
Szene 9: Ort: Schreibtisch, Laptop, Feldtagebuch
„Eigentlich habe ich viel in Erfahrung bringen können. Ohne die Zustimmung ist es mir aber nicht möglich, eine spannende Geschichte zu erzählen. Gibt es vielleicht andere Möglichkeiten der Annäherung an den Forschungsgegenstand? Sie hat mir mal davon erzählt, dass ein Artikel über einen Promi-Besuch in der Straße Aufsehen erregt hat. Außerdem könnte ich ja nochmal bei dem Handwerkermeister nachfragen“ (Projekt Urbane Nischen, Feldtagebuch).
Ich wurde an einem Punkt der Feldforschung zurückgewiesen, an dem ich mich dem Ziel schon sehr nahe wähnte. Mit dem Interview sollte eigentlich die verborgene Geschichte eines typischen Westend-Hinterhofs erzählt und dabei begreifbar gemacht werden, welche Bedeutung auch diese scheinbar unscheinbaren Orte für ihre Bewohner:innen haben. Das Projekt war gescheitert und ich war bemüht, mich nach Alternativen umzusehen. Es folgten Momente, in denen ich mich fragte, wie ich nun mit den Erkenntnissen umgehen sollte, die ich in den vergangenen Monaten gemacht hatte. Zwar konnte ich schon im Vorgespräch und den Telefonaten viel über den Hinterhof in Erfahrung bringen, jedoch war es mir ja nicht mehr möglich, meine Forschungsfrage nach dem „Hinterhof als sicheren Rückzugsort“ zufriedenstellend zu beantworten. Fehlender Zugang führt im besten Fall zu Interpretation, im schlechtesten zu Spekulation (vgl. Heimerdinger 2013, 17). Letzteres wollte ich beim Schreiben der Hinterhofgeschichte tunlichst vermeiden. Selbst andere mögliche Quellen (Szene 9) konnten mir nicht helfen. Ein mögliches Interview mit dem Handwerkermeister im Hinterhof etwa, schied aus gesundheitlichen Gründen des Gesprächspartners aus.
Mir fiel es zunehmend schwer, das Positive in diesem Forschungsprozess zu sehen, der viel Zeit und Ressourcen in Anspruch genommen hatte, schon weit fortgeschritten war und nun mit der Absage umsonst schien. Ich hatte zwar eindrucksvolle Erfahrungen gemacht und spannende Erkenntnisse gewonnen, konnte diese aber nicht in einen Projektbeitrag ummünzen. Diese pessimistische Sichtweise änderte sich erstmals nach einem weiteren Telefonat mit der Hauseigentümerin, bei dem sie unvermittelt ihre Wertschätzung für unsere Gespräche zum Ausdruck brachte (Szene 10).
Szene 10: Ort: Wohnzimmer, am Telefon: Hauseigentümerin (S.).
S.: „Ich wollte mich auch nochmal bei Ihnen bedanken, weil ich bemerkt habe, was man alles Tolles wiederfindet. Ich habe mich ja jetzt auch mal wieder mit meinem Heim auseinandergesetzt. Ich habe erst neulich mit einer ehemaligen Mieterin gesprochen, die hat mir auch erzählt, dass die es als Kinder hier immer schön hatten. Das sind teilweise tolle Geschichten, die man selbst wieder total vergessen hat“ (Projekt Urbane Nischen, Feldtagebuch).
Für mich war der Forschungsprozess von einem ständigen Up and Down geprägt. Obwohl die Hauseigentümerin häufig skeptisch wirkte, waren die Gespräche mit ihr immer wieder ausführlich und aufschlussreich. Es war teilweise widersprüchlich, wie sehr sie sich einerseits über die Wirkung eines Berichts über ihr Wohnhaus besorgt zeigte, während sie andererseits ein großes Mitteilungsbedürfnis ausstrahlte. Einmal angefangen, erzählte sie häufig minutenlang und schien erfreut, dass ich ihr zuhörte. Auch bereitete sie sich akribisch auf das geplante Interview vor und bedankte sich bei mir, da sie aufgrund unseres Interesses angefangen hatte, sich auch selbst mit der Geschichte ihres Wohnortes auseinanderzusetzen (Szene 10).
Mit der Erkenntnis, dass es sich manchmal lohnt, genauer hinzusehen, möchte ich meine Ausführungen zu dem „typischen Westend-Hinterhof“ gerne abschließen und dabei einen Rückbezug zum Projekttitel „Urbane Nischen“ herstellen. Der Begriff und die damit verbundenen Probleme lassen sich auf das gewählte Beispiel nämlich hervorragend anwenden. Eine Nische wird anscheinend auch von denjenigen übersehen, die sich täglich mit ihr konfrontiert sehen: „Urbane Nischen werden nur von einem bestimmten Teil einer Gesellschaft bewusst erkannt und genutzt“ (Roth 2021). Dies kann jedoch auch dazu führen, dass andere Menschen von der Nische ausgeschlossen bleiben. Im Falle dieses Projektbeitrages war ich einer dieser anderen Menschen. Aufgrund der Sorge um Sicherheit blieb mir der Zugang zur Nische Hinterhof verwehrt. Dies drückte sich am Ende im Scheitern des Interviews aus. Darin steckt in gewisser Weise auch eine Antwort auf meine Forschungsfrage nach dem „Hinterhof als sicheren Rückzugsort“. Es scheint, dass eine „urbane Nische“ bestens dafür geeignet ist, sich kurzzeitig den Einflüssen der Außenwelt zu entziehen und die Sicherheit vor unerwünschten Gästen zu genießen. Das Bedürfnis nach einem Ort, der diese Funktion erfüllt, könnte gerade in Zeiten der Pandemie nicht aktueller sein.
Akt 5: Katastrophe? Nein! Ein Anpassen an den Forschungsprozess.
Szene 11: Ort: Schreibtisch, Laptop, Feldtagebuch:
„Wie wird daraus ein Projektbeitrag? Ist kein Ergebnis auch ein Ergebnis?“ (Projekt Urbane Nischen, Feldtagebuch).
Akt Fünf meiner Geschichte ist ein andauernder Prozess. Das Forschungsfeld befindet sich weiter in Bewegung. Nur langsam konnte ich erkennen, dass gerade auch Geschichten interessant sind, die nicht erzählt werden können (Szene 11). Noch lange war für mich das vermeintliche Scheitern der so spannenden Geschichte über den „Hinterhof als sicheren Rückzugsort“ schwer hinzunehmen. Erst bei gemeinsamen Besprechungen mit den anderen Projektteilnehmer:innen wurde mir klar, dass uns solche Probleme beim Forschen alle in ähnlicher Weise betroffen hatten. Diese Erkenntnis und der gleichzeitige Zuspruch der Kommiliton:innen für die Idee, eine Geschichte zu erzählen, die nicht wie geplant zu Stande kam, hat mir gezeigt, dass es für das Projekt auch spannend sein könnte, die Herausforderungen des Forschungsprozesses offenzulegen.
Im Verlauf der Feldforschung war ich mit vielen Störungen konfrontiert, die den reibungslosen Ablauf im Forschungsprozess verhinderten. Jörg Potthast zufolge wird bei solchen Störungen erst eine dahinterstehende Technik sichtbar, die sich eigentlich der Beobachtung entzieht (vgl. Potthast 2009, 306). Von der Technik zu sprechen heißt in Bezug auf das Erforschen der Hinterhöfe vom Feldforschungsprozess als solchem zu sprechen. Dieser hat in seiner Gesamtheit nicht mehr funktioniert und rückte damit erst in das Zentrum dieses Beitrags.
Szene 12: Ort: Schreibtisch, Laptop, Werkstattgespräch: Kommilitonin (K.)
K.: „Dein Beitrag erinnert mich an ein Seminar, das ich mal besucht habe. Da ging es um die ‚Produktivität der Störung‘“ (Projekt Urbane Nischen, Feldtagebuch).
Ich konnte glücklicherweise und mit Hilfe des Projektteams rechtzeitig feststellen, dass das Vorkommen von Störungen keineswegs den Abbruch der Feldforschung zur Folge haben muss (Szene 12). Vielmehr können Störungen auch eine eigene Produktivität hervorbringen, etwa durch die Suche nach kreativen Lösungswegen (vgl. Schüttpelz 2003, 15; 17). Die Begriffe „Reparieren“ und „Innovation“ stehen in engem Zusammenhang miteinander. Innovation bedarf es in einem Moment, in dem etwas nicht nach einem vorgegebenen Muster repariert werden kann (vgl. Jackson 2014, 226f.). Während aber „Innovation“ positiv konnotiert ist, gerät „Reparieren“ erst dann in den Fokus, wenn etwas kaputt ist. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass es gar keine Innovation gäbe, wenn nicht vorher etwas kaputt gegangen wäre (vgl. Jackson 2014, 227). Auf mein Projekt bezogen hat das Reparieren der zahlreichen Störungen im Feldforschungsprozess erst zur Entstehung dieses Beitrags geführt. Es ist nicht die Geschichte geworden, die ich eigentlich erzählen wollte. Ich freunde mich aber mehr und mehr mit dem Gedanken an, dass die tatsächlich entstandene Geschichte möglicherweise sogar innovativer ist, mindestens aber genauso erzählenswert. Letztlich gilt, dass sich über das Vorhandene immer leichter sprechen lässt als über das Abwesende (vgl. Heimerdinger & Näser-Lather 2019, 12).
Der Hinterhof, der ursprünglich den Mittelpunkt meiner Hinterhofgeschichte bilden sollte, steht für mich exemplarisch für das Leben in den Nischen des Wiesbadener Westends. Das wollte ich beschreiben. Ich hoffe, dass dieser Projektbeitrag am Ende in ähnlich exemplarischer Weise den Forschungsprozess und die damit verbundenen Probleme darstellen konnte. Als Studierende der Kulturanthropologie sahen wir uns beim Erforschen von „urbanen Nischen“ mit Herausforderungen konfrontiert, auf die es auf kreative Weise zu reagieren galt. Diese Erfahrung, die auch von der aktuellen Pandemielage geprägt war, hat mich als Lernender sehr bereichert und mir aufgezeigt, dass nicht immer alles so abläuft, wie man sich es vorher ausgemalt hat. Aber sind es nicht gerade solche Erfahrungen, aus denen man am meisten lernt?
Literatur
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Heimerdinger, Timo (2013). Europäische Ethnologie als Oberflächenwissenschaft – zur Einführung in provozierender Absicht. Österreichische Zeitschrift für Volkskunde, 116 (1+2), 5–19.
Heimerdinger, Timo; Näser-Lather, Marion (2019). Einführung: Gute Themen, schlechte Themen. In: Dies. (Hg.). Wie kann man nur dazu forschen? Themenpolitik in der Europäischen Ethnologie. (Buchreihe der ÖZV, Bd. 29) (11–28). Wien: ÖZV.
Jackson, Steven J. (2014). Rethinking Repair. In: Gillespie, Tarleton; Boczkowski, Pablo J.; Foot, Kirsten A. (Hg.). Media Technologies: Essays on Communication, Materiality, and Society (221–239). Cambridge: The MIT Press.
Kämpf-Jansen, Helga (2012). Ästhetische Forschung. Wege durch Alltag, Kunst und Wissenschaft. Zu einem innovativen Konzept ästhetischer Bildung. Marburg: Tectum.
Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung (2019) Wiesbadener Stadtanalysen. Leben in Wiesbaden 2018. Fakten und Einstellungen zum Thema Verkehr. https://www.wiesbaden.de/medien-zentral/dok/leben/stadtportrait/2019_04_Stadtanalyse_LIW_Verkehr.pdf [24.07.2020].
Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Grundsicherung und Flüchtlinge & Amt für Soziale Arbeit (2019). Wiesbadener Sozialraumanalyse 2019. Entwicklung der sozialen Bedarfslage in den Stadtteilen. https://www.wiesbaden.de/leben-in-wiesbaden/gesellschaft/sozialplanung-entwicklung/content/sozialraumanalyse.php [25.07.2020].
Niebergall, Rainer (2012). Von Hinterhöfen und sozialem Wohnungsbau: Das Westend. Wiesbaden: o.V.
Peters, Sibylle (Hg.) (2013). Das Forschen aller. Artistic research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft. Bielefeld: transcript.
Potthast, Jörg (2009). Papier, Bleistift & Bildschirm. In: Kassung, Christian (Hg.). Die Unordnung der Dinge. Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls (303-327). Bielefeld: transcript Verlag.
Roth, Jonathan (2021). Urbane Nischen. Kulturanalytische Perspektiven auf den Hinterhof. In: Ders. & von der Assen, Aline (Hg.). Urbane Nischen. Ethnographische Erkundungen in den Hinterhöfen des Wiesbadener Westends. Mainz.
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Schmidt-Lauber, Brigitta (2001). Das qualitative Interview oder: Die Kunst des Reden-Lassens. In: Göttsch, Silke & Lehmann, Albrecht (Hg.). Methoden der Volkskunde (165–186). Berlin: Dietrich Reimer Verlag.
Schüttpelz, Erhard (2003). Frage nach der Frage, auf die das Medium eine Antwort ist. In: Ders. & Kümmel, Albert (Hg.). Signale der Störung (15–29). München: Wilhelm Fink Verlag.
Serres, Michel (1981). Der Parasit. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Spiritova, Marketa (2014). Narrative Interviews. In: Bischoff, Christine; Oehme-Jüngling, Karolin; Leimgruber, Walter (Hg.). Methoden der Kulturanthropologie (117–130). Bern: Haupt Verlag.
Spitthöver, Maria (2002). Freiraumqualität statt Abstandsgrün. Bd. 1 Geschichte der Freiräume im Mietgeschosswohnungsbau (Schriftenreihe des Fachbereichs Stadtplanung/Landschaftsplanung der Universität Kassel, 25). Kassel: Univ.-Bibliothek. URL: https://kobra.uni-kassel.de/handle/123456789/2009022526443
Wunderer, Hartmann (1996). Feldherren und Tintenkleckser. Portrait eines Stadtteils. In: Honekamp, Gerhard (Hg.). Wiesbaden – Hinterhof und Kurkonzert. Eine illustrierte Alltagsgeschichte von 1800 bis heute. (Eine Publikation der Wiesbadener Geschichtswerkstatt e.V.) (108–111). Gudensberg-Gleichen: Wartberg.
Quellen
Projekt Urbane Nischen. Feldtagebuch, Eintrag vom 11.6.2020.
Projekt Urbane Nischen. Feldtagebuch, Eintrag vom 20.11.2020.
Projekt Urbane Nischen. Feldtagebuch, Eintrag vom 04.09.2020.
Projekt Urbane Nischen. Feldtagebuch, Eintrag vom 30.11.2020.
Projekt Urbane Nischen. Feldtagebuch, Eintrag vom 05.12.2020.
Projekt Urbane Nischen. Feldtagebuch, Eintrag vom 11.12.2020.