Kunstnische Westend.
Vom Mikrokosmos Hinterhof und Titus Grabs Kunstwerken im öffentlichen Raum

Kunstnische Westend.
Vom Mikrokosmos Hinterhof und Titus Grabs Kunstwerken im öffentlichen Raum

Im facettenreichen Wiesbadener Westend wird ein Hinterhof in der Goebenstraße zum Ausgangspunkt künstlerischen Schaffens. Die urbane Oase dient unter anderem dem plastisch arbeitenden Künstler Titus Grab als Basis für die Realisierung von Kunstwerken, die er im Westend präsentiert und in Bezug zum öffentlichen Raum stellt. In einem gemeinsamen Spaziergang erkunden wir das Westend und ich lerne den besonderen Hinterhof in der Goebenstraße kennen. Dieser Beitrag beleuchtet die Relevanz von Kunst im öffentlichen Raum und die Bedeutung der Hinterhöfe im Westend als urbane Nischen und Rückzugsräume für Kulturschaffende.

Karen Hubrich

Kunstprojekte von Titus Grab im Wiesbadener Raum

An einem Donnerstag im September 2020 treffe ich den Künstler Titus Grab. Bei einem Spaziergang zeigt er mir sein Westend, die unterschiedlichen Ecken, Nischen und Menschen, die ihm wichtig sind. Vom quirligen, inneren Westend kommend, habe ich das Gefühl, im äußeren Westend einen Ort der Erholung gefunden zu haben. Nachdem wir den Bismarckring überquert haben und in die Blücherstraße einbiegen, faszinieren mich sofort die prächtigen Gebäude, die im wilhelminischen Baustil errichtet worden waren. Bunte Blumen und wild wachsende Sträucher säumen die Straße. Unser Weg führt uns in Richtung Goebenstraße. Die ganze Umgebung strahlt eine Ruhe aus, die mich innehalten und den Blick umherschweifen lässt.
Wir befinden uns an einer Kreuzung, die wie ein kleiner Platz anmutet. Bänke stehen zu allen Seiten und im veganen Café an der Ecke sitzen lachende Menschen. Große, üppig wachsende Bäume spenden kühlen Schatten an diesem warmen Septembertag. Ich höre den Wind in den Bäumen rauschen und spüre die Sonne auf meinem Gesicht. Ich habe das Gefühl, langsam zu verstehen, wieso sich die Bewohner:innen hier so wohl fühlen. Wir biegen nun in die Goebenstraße ein, die beidseitig von meterhohen Bäumen gesäumt wird, welche die hohen Häuser dahinter zum Teil nur erahnen lassen.
Die Geschichte der Straße beginnt Ende des 19. Jahrhunderts. Im Rahmen der Stadterweiterung Wiesbadens, wurden zu diesem Zeitpunkt die innerstädtischen Achsen fortgeführt und das Feldherrenviertel als erstes Erweiterungsgebiet jenseits der Ringstraße erschlossen. Um 1900 wurde die Goebenstraße angelegt, benannt nach dem preußischen General August von Goeben (vgl. Russ 2005, 509). Die Größe der Grundstücke im Feldherrenviertel ließ eine Bebauung von Seitenflügeln sowie von ein bis zwei Hinterhäusern zu, darüber hinaus war auch eine Hofbebauung mit Werkstätten zulässig. Die Mietshäuser des Viertels bestehen in der Regel aus viereinhalb Geschossen (vgl. Russ 2005, 464f.). Typisch für diese Zeit ist die Blockrandbebauung. Aufgrund steigender Nachfrage nach Wohnraum wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts freie Flächen bereits vorhandener Grundstücke bebaut. Infolgedessen entstand eine Anordnung mehrgeschossiger Wohngebäude um eine gemeinsam genutzte Freifläche, den Hinterhof (vgl. Spitthöver 2002, 9). Waren die Hinterhöfe zunächst noch eine rein städteplanerische Schnittstelle zwischen Vorder- und Hinterhaus, repräsentierten sie bald ein stadtspezifisches „Spannungsverhältnis von Pomp und Ehrlichkeit“ (Interview Grab 2020).
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts spiegelte die Bebauung mit Vorder- und Hinterhaus das Sozialgefälle wider (vgl. Schroubek 2008, 221), das sich gegenwärtig noch immer an architektonischen Feinheiten ablesen lässt. Hinterhöfe, so beschreibt es auch Titus Grab bei unserem Spaziergang, beherbergen verborgene Welten, die sich durch Hoftüren zur Außenwelt abgrenzen: „Es gibt die Nischen, die Winkel, die Ecken, den Hinterhauszwischenbau, die kleinen Hinterhauswohnungen, das gibts alles, das ist da“ (Interview Grab 2020). Die Bauweise im Westend hat Hinterhöfe von unterschiedlichster Art und Größe hervorgebracht. Zwischen- und Mittelbauten komplettieren diese facettenreich gestalteten urbanen Nischen. Die Architektur ermöglicht so eine individuelle Nutzung der Hinterhöfe im äußeren Westend, vor allem als Kultur- und Kunsträume: „Diese Kunst- und Kreativzszene in diesem Viertel, […] basiert auf diesen Räumlichkeiten. Das ist die ganz banale Grundlage“ (Interview Grab 2020). Im Hinterhof von Titus Grab entfaltet sich ein solcher künstlerischer Mikrokosmos.

Mikrokosmos Hinterhof

Der Eingang zu diesem Hinterhof im mittleren Abschnitt der Goebenstraße[1] wird flankiert von einem Akazienbaum und einem riesigen, lorbeerartigen Strauch, der dicht und grün seine Äste über den Gehweg hängen lässt. An der Tormauer ranken sich wilder Wein und wilde Rosen entlang. Wir treten durch das Hoftor, die Tür schließt sich hinter uns und die Welt draußen ist vergessen. Die dunkle Unterführung ist wie ein Schwellenraum, der uns nach wenigen Metern in eine andere Welt entlässt. Der Himmel öffnet sich über uns, vor und hinter uns ragen vierstöckige Gebäude in die Höhe. Auf der rechten Seite befindet sich eine halbhohe Mauer aus roten Ziegelsteinen, die den Blick auf eine lange Häuserschlucht freigibt. Die Sonne scheint nur noch auf die Mansardenfenster und wieder sind wir hier von üppig wachsenden Pflanzen umgeben. 

Abb. 1: Aussicht im Hinterhof der Goebenstraße (Foto: Karen Hubrich)

Wir befinden uns im Hinterhof. Verschiedene Kunsthandwerker:innen bewohnen hier die Vorder- und Hinterhäuser. Die Ateliers und Werkstätten befinden sich in Wohnungen, Zwischengebäuden und Nebenräumen.

Abb. 2: Hinterhof in der Goebenstraße. Balkone Vorderhaus (Foto: Karen Hubrich)

Ein paar Treppenstufen führen vom Straßenniveau hoch zum eigentlichen Hinterhof. Der gesamte Platz kommt mir vor wie eine grüne Oase. Überall verteilt stehen Blumentöpfe mit den verschiedensten Pflanzen. Links und rechts laden kleine Stuhlgruppen zum Verweilen ein. Sofort fällt mir die schöne Klinkerstruktur der Häuserwände auf. An der Wand des Vorderhauses sind unverputzte, rot-braune Ziegelsteine zu erkennen. Farblich passend fügen sich die grün gestrichenen Fenster und Türen ein. Die kleinen Balkone kragen schwebend in den Hinterhof. Von der zweiflügeligen Haustür führt eine mehrstufige Treppe in den Hof hinunter. Gleich rechts daneben befindet sich eine weitere kleine Tür, die zu einem Raum im Vorderhaus, dem Materialdepot der „Kunst-Koffer“, führt.

Abb. 3: Hinterhof in der Goebenstraße. Blickrichtung Vorderhaus (Foto: Karen Hubrich)

Die besondere Architektur schafft hier Räume zur künstlerischen Entfaltung. Eine ehemalige Abstellkammer im Vorderhaus funktionierte der plastisch arbeitende Künstler Titus Grab zu seinem Atelier um. Vorder- und Hinterhaus werden verbunden durch ein hölzernes Zwischengebäude mit Wellblechdach. Die ehemalige Schreinerwerkstatt wird als Arbeitsraum für Kunsthandwerk genutzt. An den Stützbalken des Baus ranken sich wilde Rosen mit großen, rosafarbenen Blüten empor. Links hinten steht eine eindrucksvolle Papyrus-Pflanze, während rechts die Fensterbank des Hinterhauses von sechs Blumentöpfen mit violetten und weißen Blumen geziert wird. Die Ziegelsteinwand des Hinterhauses bildet mit ihrem weiß-grauen Anstrich und den rot-braunen Fensterrahmen einen interessanten Kontrast zum den neutralen Tönen des Hinterhofes.

Abb. 4: Kunstwerkstatt im Zwischengebäude (Foto: Karen Hubrich)

Nachdem ich mich ein wenig umgeschaut habe, führt Titus mich über das Treppenhaus des Hinterhauses in einen zweiten Hinterhof. Es ist ein kleinerer Hof, dessen erhöhter Platz auch über einige Treppenstufen erreicht werden kann. Dominiert wird der Platz von einem imposanten Feigenbaum, der den gesamten Platz beschattet und fast überdimensioniert für den Raum wirkt. In den Blumentöpfen stehen Farne und Bambusse und die rechte Wand des angrenzenden Hauses ist überwuchert mit wildem Wein. Auch die alten, naturbelassenen Gemäuer erwecken meine Aufmerksamkeit. Das schräge Mäuerchen am Ende des Hofes wurde während der Entstehungszeit des Hauses, in den Jahren 1904–1905 erbaut und grenzte damals den urbanen Teil von einem Feldweg ab, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch direkt dahinter verlief (vgl. Adressbuch Wiesbaden 1905, 450f.). Ich berühre die Hauswand, an der ich stehe und fühle die rauen, unebenen Ziegelsteine, die alle individuell geformt sind. Titus erklärt mir, dass die Ziegelsteine von unzähligen Tagelöhnern aus Rheinhessen im Feldbrand hergestellt wurden.

Abb. 5: Zweiter Hinterhof der Goebenstraße mit Feigenbaum (Foto: Karen Hubrich)

Den prächtigen Feigenbaum hat Titus Grab vor 15 Jahren selbst gepflanzt. Auch er hat einmal hier im Hinterhaus gewohnt und veranlasste im rechten Hinterhausgebäude einen Mauerdurchbruch, um Platz für eine große Fensterflügeltür zu schaffen. Er berichtet, wie die Sonne auf das schöne Fleckchen scheint und erinnert sich, wie im Sommer die Fenstertüren offenstanden und sich Menschen an lauen Abenden zu langen Gesprächen trafen. Fernab von der Welt draußen, von lauten Straßen und Abgasgeruch, die man an diesem Platz nicht wahrzunehmen scheint, eröffnet sich hier ein Ort der Ruhe und Entschleunigung. Ein Ort, der zum Verweilen und Wohlfühlen einlädt. Vielleicht ist dieser wunderbare, schattige und gemütliche Hinterhof ja das heimliche Herzstück des Gebäudekomplexes. So wird es für mich immer deutlicher, dass genau hier ein Nährboden für künstlerisches Schaffen geformt werden konnte

Kunst im öffentlichen Raum

Der Künstler Titus Grab lebt und arbeitet seit 25 Jahren in der mittleren Goebenstraße in Wiesbaden. An der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz studierte er Ethnologie. Darüber hinaus war er jahrelang als Kunsttherapeut tätig. Als Bildhauer fertigt Titus Grab vor allem plastische Arbeiten, die er auch im Westend präsentiert. In seiner Werkstatt lässt er Kunstwerke entstehen, die er in Bezug zum öffentlichen Raum stellt und diese dadurch konkret in der Stadt verortet – eine Form der „Site Specific Art“.
Das Konzept der „Site Specifity“ beschreibt die konkrete Verortung der Kunstwerke sowie ihre Bezugnahme zu räumlichen, sozialen oder historischen Eigenheiten des Ortes (vgl. Butin 2014, 164). Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts begannen Künstler:innen in Nordamerika und Europa, sich mit der Platzierung ihrer Werke im öffentlichen Raum zu beschäftigen (vgl. Butin 2014, 164). In den 1970er Jahren kam es zu einem Paradigmenwechsel in Bezug auf Kunst im öffentlichen Raum (vgl. Lewitzky 2005, 81). Dadurch rückte die Ortsspezifik der Kunst mehr und mehr in den Vordergrund. Kunstwerke sollten in die urbane Umgebung integriert werden (vgl. Grasskamp 2001, 507). Neben einer konkreten Verortung der Kunstwerke erwuchs auch eine partizipative, künstlerische Praxis für Kunst im öffentlichen Raum (vgl. Lewitzky 2005, 83). Die Kunst im öffentlichen Raum sollte die Stadt wieder erlebbar machen: „Die Stadt muss als Ort begriffen werden, der Sozialisation, Kommunikation und Kreativität ermöglicht. Kultur in der Stadt bedeutet daher – Kommunikation zu fördern und der Vereinzelung entgegenzuwirken“ (Büttner 1997 zitiert nach Lewitzky 2005, 83).
In den 1990er Jahren richteten Künstler:innen ihre Interessen schließlich auf gesellschaftliche Aspekte der Ortsbezogenheit und verstanden ihre Arbeiten auch als „Angebot aktiver Partizipation und als Anstoß zu offenen kommunikativen Prozessen“ (Butin 2014, 166). Kunstwerke im öffentlichen Raum wirken ungefiltert auf die Öffentlichkeit und tragen „den Ansatz einer Demokratisierung von Kunst in sich“ (Dogramaci 2019, 244).
Als Beispiel eines Kunstprojektes, das sich mit der Thematik der Darstellung von Kunst im Stadtraum auseinandersetzt, ist das 2012 in Köln entstandene Projekt “Der urbane Kongress” zu nennen, das bundesweit für Aufsehen sorgte. In vier Aktionsphasen wurde versucht, eine Kommunikation zwischen Menschen, Stadt und Kunst herzustellen. Konkret wurden die Ideen des Teams anhand von Markierungen an verschiedenen Plätzen im öffentlichen Kölner Stadtraum umgesetzt. Hierfür legten die Akteure grellfarbige Teppiche in rechteckigem oder rundem Format um verschiedene Kunstwerke im Kölner Stadtraum. Ein Augenmerk lag hier auf der (Re-)Organisation alter und neuer Kunstwerke im Stadtraum (vgl. Ambach & von Keitz 2015, 8).
Kunstwerke im öffentlichem Raum können mit und für die Menschen in der Stadt geschaffen werden. In jedem Fall haben sie auch Einfluss auf die Wahrnehmung einer Stadt. Daher spielen insbesondere Künstler:innen im Entwicklungsprozess einer Stadt eine zentrale Rolle (vgl. Landau & Mohr 2015, 173).
Titus Grab und die Kunst im Westend
Inmitten der Stadt Wiesbaden, zwischen Leben und städtischem Treiben, entstehen in der urbanen Oase der Goebenstraße Kunstwerke, die mit und auf diese Stadt wirken. Im vielfältigen Westend nimmt Titus Grab eine tragende Rolle in der Kunstvermittlung ein. Unter dem Namen „Kunst zur Zeit“ beschäftigt er sich in seinen künstlerischen Arbeiten mit aktuellen Themen. So zeigt das Stadtmuseum am Markt in Wiesbaden dauerhaft seine Installation „Wem gehört die Stadt?“, mit der er auf den Umgang mit Stadtraum in Wiesbaden aufmerksam machen will (s. Abb. 6 & 7). In seiner Kunst verarbeitet er gerne soziale und politische Themen:

„Mich hat das Soziale interessiert. Und das Soziale ist in meiner Kunst auch zuhause. […] Dieses Interesse, […] wie sich das Soziale in materiellen Spuren manifestiert, das pfleg‘ ich in meiner Kunst und nehme da Bezug drauf“ (Interview Grab 2020).

Abb. 6.: Rauminstallation "Wem gehört die Stadt?" Original Baustellen-Hölzer und Baustellen-Werkzeuge (Quelle: Künstlergruppe50. Wiesbaden 2020)
Abb. 7: Fotografien, überwiegend aus dem Stadtgebiet Wiesbaden, Teil der Installationen 2020 (Quelle: Künstlergruppe50. Wiesbaden 2020)

Hier im Westend, das seit über zwei Jahrzehnten seine Heimat ist, sind viele seiner Kunstwerke verortet. Für eine dauerhafte Kunstinstallation an einer Brandmauer, nahm Titus Grab Bezug auf Küchengespräche, die über offene Fenster und Türen in die Hinterhöfe dringen. Aus Ton fertigte er übergroße Satzzeichen, die er an der Mauer anbrachte: „Wenn du da jahrelang draufguckst, kannst du es immer neu füllen“ (Interview Grab 2020) (s. Abb. 8). Weitere Kunstinstallationen mit explizitem Ortsbezug gestaltete er für einige Treppenhäuser im Westend. Hier entwarf er Objektkästen mit alten Fotografien oder Materialien von Umbauten der entsprechenden Gebäude (s. Abb. 10). Unter anderem griff er in einem Haus auch die Historie der Feldbrandziegelsteine auf.

Abb. 8: „Fiktiver Dialog“ (Quelle: Titus Grab 2002)
Abb. 9: Fragezeichen-Duplikat. Balkon Titus Grab. (Foto: Karen Hubrich)
Abb. 10: Objektkästen im Treppenhaus der Hellmundstraße 30 (Foto: Karen Hubrich)
Abb. 11: Teil der Westend-Galerie in der Goebenstraße (Foto: Karen Hubrich)

Eine andere Art der Kunstbegegnung befindet sich direkt in der Mitte der Goebenstraße: Die Westend-Galerie, bestehend aus 12 Blechrahmen im DINA3-Format, verortet am Übergang vom inneren zum äußeren Westend. Eine Freiluftgalerie, bei der „du keine Tür aufmachen musst und keine Schwellenangst haben musst. Wo dir Kunst auf der Straße begegnet“ (Interview Grab 2020) (s. Abb. 11). Fernab von Museen können die Menschen hier Kunstwerken begegnen. Auch bei dem von Titus Grab 2003 ins Leben gerufenen Projekt der „Kunst-Koffer“, entfaltet sich die Kreativität auf den Straßen und Plätzen der Stadt. Bei diesem, im Jahr 2010 mit dem Integrationspreis der Stadt Wiesbaden ausgezeichneten Projekt, steht die individuelle Förderung von Kindern durch künstlerische Mittel im Vordergrund (vgl. Mensch Westend 2013; Kunst-Koffer 2021; Wiesbaden 2021). Im Sinne kultureller Teilhabe können Kinder hier, ihren eigenen Interessen und Wünschen entsprechend, künstlerisch tätig werden.
Insbesondere während der Covid-19-Pandemie wird die Bedeutung dieser Kunst im öffentlichen Raum deutlich. Während Museen und Kulturstätten geschlossen bleiben, können hier dennoch Kunstwerke betrachtet werden. Auf die gegenwärtige Lage reagierte auch Titus Grab mit seiner Kunst. Mit der Idee zu dem Windspiel „Leichtes in dieser Zeit“ begegnet er der Schwere der Situation und fordert die Menschen zum Mitmachen auf (s. Abb. 12 & 13). Ebenso prangerte er die Schließung der Kulturorte an: Ein Plakat mit dem Aufdruck „Lasst uns hier rein“ bot er zur Vervielfältigung an, um es von jeder:m an die favorisierten Kulturstätten hängen zu lassen (s. Abb. 14 & 15).

Abb. 12: Postkarte Windspiel 2020 (Foto: Oliver Rüther)
Abb. 13: „Leichtes in dieser Zeit“ (Quelle: „Kunst zur Zeit“ 2020, Foto: Oliver Rüther)
Abb. 14 : Plakat: „Lasst uns hier rein!“ (Quelle:„Kunst zur Zeit“ 2020

Darüber hinaus gestaltet er auch großräumige Veranstaltungen, die das Westend und seine Bewohner:innen direkt einbeziehen und den Stadtteil beleben. Im Sommer 2020 organisierte er mitverantwortlich “Kleinode im Westend entdecken”, ein Aktionstag, bei dem Kunst- und Kulturschaffende des Westends ihre Hinterhöfe der Öffentlichkeit zugänglich machten (s. Mensch Westend 2020).

Rückzugsraum Hinterhof

Im Westend findet die Kunst auf diese Weise vor allem in den Hinterhöfen ihren Platz. Im 19. Jahrhundert blieb die Hinterhofbebauung dagegen vor öffentlichen Blicken verborgen, zur Schau gestellt wurden lediglich die prachtvollen Fassaden (vgl. Wunderer 1996, 110). Im Gegensatz zur gegenwärtigen Situation, war die soziale Distanz zwischen den heterogenen Bewohnern des Vorder- und Hinterhauses so groß, dass zwischen ihnen kaum Kommunikation stattfand. Dennoch bildete der Hinterhof einen „sozialen Kosmos höchst eigengeprägter Art“ (Schroubek 2008, 221), in dem etwa zwischen den Dienstboten viele soziale Kontakte geknüpft wurden. Insbesondere der Balkon war eine wichtige Kommunikationszone (vgl. Schroubek 2008, 223).
Heute bilden Hinterhöfe Rückzugsräume für alle Kulturschaffenden. Viele Künstler:innen sind hier verwurzelt und prägen über die Hinterhöfe hinaus die Diversität des Viertels. Die Kunstnische in der Goebenstraße hat Titus Grab wesentlich mitgeformt. Mit der Zeit holte er viele Kreative ins Haus. Auch die „Kunst-Koffer“ hat Titus Grab von hier aus aufgebaut. Ein zugestellter, kleiner Raum im Vorderhaus wurde so zur Basis für das partizipative Projekt. So entfaltete sich hier nach und nach ein urbanes Biotop mit einer wachsenden Gemeinschaft, die das Leben hier zu etwas Einzigartigem machen. Es wird deutlich, wie eng Titus Grab nicht nur als Künstler, sondern auch als Anwohner mit dem Westend verwachsen ist:

„Ja, ich bin mit den Geschichten sehr verbunden hier. Und ich finde ganz viel total schön hier. Es ist sehr ehrlich hier. […] Auch die verborgenen Welten der Hinterhöfe, das finde ich für mich auch im 25. Jahr immer noch spannend“ (Interview Grab 2020).

Allerdings muss sich das Westend auch einem Gentrifizierungsprozess[2] stellen, der mit steigenden Mieten und verringertem Platz für Künstler:innen einhergeht. Was geschieht mit der Kunst- und Kulturszene des Westends, wenn zunehmende Preise und bauliche Veränderungen das Habitat der Künstler:innen massiv verändern? Wenn Nischen und Hinterhöfe weniger werden, wo findet die Kunst dann ihren Platz in diesem Viertel? Für Titus Grab steht fest: Kultur gab es immer und wird es immer geben: „Das ist nämlich nicht steuerbar“ (Interview Grab 2020). Durch die Kunst werden Menschen zusammengebracht und Gemeinschaften geformt, sie kann auf Missstände aufmerksam machen oder auch einfach etwas Schönes erschaffen. In der Kunst ist man „vogelfrei“, wie Titus betont. „Meine Werkstatt ist der freieste Ort der Welt. Diese Freiheit, gegen die kommt niemand an!“ (Interview Grab 2020).

Abb. 15: Titus Grab in seiner Werkstatt in der Goebenstraße (Foto: Karen Hubrich)

[1] Dem Wunsch der:s Hauseigentümers:in folgend, wird die genaue Adresse hier nicht genannt.

[2] Der Begriff Gentrifizierung wurde erstmals 1964 von Ruth Glass im Rahmen einer Studie verwendet, die einen Bevölkerungswandel in London untersuchte. Die Mittelklasse vom Land, die sogenannte Gentry, investierte damals in heruntergekommene, viktorianische Häuser in der Stadt und setze diese wieder in Wert. Die infolgedessen gestiegenen Mieten verdrängten die ortsansässigen Arbeiterfamilien und führten zu einer Veränderung der gesamten Nachbarschaft (vgl. Eckardt 2018, 1f.).

Literatur

Ambach, Markus; von Keitz, Kai (2015). Einführung. In: Dies. (Hg.). Der urbane Kongress. Kunst und Stadt im Kontext. Ein Modellprojekt im Rahmen des StadtLabors für Kunst im öffentlichen Raum (8–9). Köln: Wienand.

Butin, Hubertus (2014). Kunst im öffentlichen Raum. In: Derselb. (Hg.). Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst (163–168). Köln: Snoeck.

Dogramaci, Burcu (2019). Kunst im öffentlichen Raum. In: Pfisterer, Ulrich (Hg.). Metzler Lexikon der Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe (242–245). Stuttgart: J.B. Metzler.

Eckardt, Frank (2018). Gentrifizierung. Forschung und Politik zu städtischen Verdrängungsprozessen. Wiesbaden: Springer VS.

Grasskamp, Walter (2001). Kunst in der Stadt. Eine italienisch-deutsche Kunstgeschichte. In: Matzner, Florian (Hg.). Public Art. Kunst im öffentlichen Raum. (Schriftenreine der Akademie der Bildende Künste) (500–515). Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz.

Kunst-Koffer (2021). Die Idee. https://www.kunst-koffer.org/ [31.03.21].

Landau, Friederike; Mohr, Henning (2015). Interventionen als Kunst des urbanen Handelns? sub\urban. Zeitschrift für kritische Stadtforschung, 3 (1), 173–178. https://zeitschrift-suburban.de/sys/index.php/suburban/article/view/174 [10.03.21]

Lewitzky, Uwe (2005). Kunst für alle? Kunst im öffentlichen Raum zwischen Partizipation, Intervention und Neuer Urbanität. Bielefeld: transcript.

Mensch Westend (2013). Kunst-Koffer laden Kinder kostenlos zur Kreativität ein. https://www.mensch-westend.de/2013/12/07/430/ [27.08.20].

Mensch Westend (2020). „Kleinode im Westend entdecken“: Kreative und Selbständige stellen sich am Samstag vor. https://www.mensch-westend.de/2020/07/24/kleinode-im-westend-entdecken-kreative-und-selbstaendige-stellen-sich-am-samstag-vor/ [22.08.2020]

Russ, Sigrid (2005). Kulturdenkmäler in Hessen. Wiesbaden I.3. Stadterweiterungen außerhalb der Ringstraße. (Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland, hg. v. Landesamt für Denkmalpflege Hessen). Stuttgart: Theiss.

Schroubek, Georg R. (2008). Beletage und Hinterhof. Gemeinsames Wohnen in einer geschichteten Gesellschaft. In: Ders. Studien zur böhmischen Volkskunde. (Münchner Beiträge zur Volkskunde, Bd. 36) (219–230). Münster u.a.: Waxmann.

Spitthöver, Maria (Hg.) (2002). Freiraumqualität statt Abstandsgrün. Bd.1: Geschichte der Freiräume im Mietgeschosswohnungsbau. Kassel: Universität Gesamthochschule Kassel.

Wiesbaden (2021). Frühere Preisträger des Integrationspreises. https://www.wiesbaden.de/leben-in-wiesbaden/gesellschaft/migration-integration/content/integrationspreis-archiv.php [31.03.21].

Wunderer, Hartmann (1996). Feldherren und Tintenkleckser. Portrait eines Stadtteils. In: Honekamp, Gerhard (Hg.). Wiesbaden – Hinterhof und Kurkonzert. Eine illustrierte Alltagsgeschichte von 1800 bis heute. (Eine Publikation der Wiesbadener Geschichtswerkstatt e.V.) (108–111). Gudensberg-Gleichen: Wartberg.

 

Literatur

Adressbuch der Residenzstadt Wiesbaden und Umgegend, 1905. Berlin und Frankfurt a.M.: Carl Schnegelberger & Cie. Online-Ausgabe: Wiesbaden: Hochschul- und Landesbibliothek RheinMain. https://hlbrm.digitale-sammlungen.hebis.de/adressbuecher-hlbrm/periodical/pageview/3107514 [10.03.21].

Interview Grab (2020). Interview mit Titus Grab, geführt am 24.09.2020 von Karen Hubrich in Wiesbaden.

 

 

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