Von Witwen, Werkstätten und Wohnanlagen – Ein Blick hinter die Fassaden der Sedanstraße um 1900
Von Witwen, Werkstätten und Wohnanlagen – Ein Blick hinter die Fassaden der Sedanstraße um 1900
Die Sedanstraße ist beispielhaft für die Architektur und Atmosphäre des Wiesbadener Westends. Am verkehrsumtosten Sedanplatz gelegen, verbindet die vergleichsweise ruhige Straße das innere mit dem äußeren Westend. Dicht an dicht drängen sich hier Klinkerbauten, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden sind. Dahinter verbergen sich in zweiter und dritter Reihe Hinterhäuser zwischen schmalen Hofanlagen. In manchen dieser Höfe finden sich noch heute Spuren ehemaliger Handwerksbetriebe wie Schreinereien und Dachdeckereien, die über viele Jahrzehnte hinweg das Alltags- und Geschäftsleben der Straße prägten. Was ist bekannt über die Menschen und Betriebe, die hier vor rund 120 Jahren zu Hause waren?
Patricia Schäffer
Einleitung – Der Beginn einer Spurensuche
Die Sedanstraße ist eine von vielen kleinen Straßen, die das Wiesbadener Westend zwischen den großen Ring-Straßen mit einem feinen Gitternetz überziehen. Beim Betreten der Straße eröffnet sich nach wenigen Schritten ein Blick auf schlichte und elegante Klinkerbauten. Die einheitliche Kulisse verleiht der Straße ihre eigene, besondere Atmosphäre.
Ein Blick hinter die Fassaden, durch die Hofeingänge hindurch, zeigt einfache Backsteinbauten, die von der Zeit gezeichnet sind: Hinterhöfe, die als Park- oder Abstellplatz, Gewerbefläche oder Müllhalde Verwendung finden. Über der Hausnummer 7 erinnert ein schmiedeeisernes Schild an die Dachdeckerei Rau, gegründet 1888 von den Gebrüdern Rau. Den Betrieb gibt es heute nicht mehr. Im ersten Hinterhof lagern, auch nach der Betriebsschließung vor mittlerweile mehr als 60 Jahren, noch die unterschiedlichsten Ziegel. Es sind Relikte aus vergangenen Tagen, als sich im Westend viele kleine Handwerksbetriebe in den Hinterhöfen eingerichtet und somit zum Gesamtbild des Viertels beigetragen haben.
Wie hat sich die Sedanstraße entwickelt und wer sind ihre ersten Bewohner:innen gewesen? Begleiten Sie uns auf unserer Spurensuche in die Vergangenheit, um einen Einblick in die Entstehungszeit der Sedanstraße zu erhalten.
Eine historische Feldforschung
Für das Porträt dieser historischen Lebenswelt werden archivarische Quellen herangezogen. Historische Stadtkarten visualisieren, wie die Bebauung der Sedanstraße ursprünglich geplant war. Weiter lässt sich auf den Plänen erkennen, wie die Bebauung anschließend tatsächlich umgesetzt worden ist und in welchem Zeitraum dies stattgefunden hat. Des Weiteren lässt sich auf den Karten auch die Anzahl der Hinterhäuser und Hinterhöfe erfassen. Durch einen Vergleich mit gegenwärtigen Stadtplänen werden Veränderungen im Stadtbild nachvollziehbar.
Abb. 3–5: Kartenansicht der Sedanstraße 1879, 1888 und 1999 (Quelle: Historischer Atlas der Stadt Wiesbaden 1799-1910)
In den historischen Adressbüchern der Stadt Wiesbaden lassen sich zudem Informationen über die ersten Bewohner:innen der Sedanstraße nachvollziehen, die auch Rückschlüsse über die soziokulturellen Strukturen um 1900 erlauben. Da mit dem Bau der Sedanstraße 1886 begonnen wurde, werden die Adressbücher der Jahrgänge 1889/1890 bis 1918 zur Betrachtung herangezogen. In den Adressbüchern sind die Hausbesitzer:innen und alle zugehörigen Hausbewohner:innen mit Berufsstand und Wohnlage im Haus verzeichnet. Diese Einträge bilden den Ausgangspunkt einer „historischen Ethnographie“ (vgl. Wietschorke 2014, 164) zu den Alltagswelten der Nachbarschaft der Sedanstraße vor rund 120 Jahren. Weitere Informationen wurden im Zuge eines Rundganges durch das Westend in informellen Gesprächen mit Anwohner:innen gewonnen. So teilte eine Anwohnerin mit, dass die Häuser der Sedanstraße größtenteils von einer wohlhabenden Dame finanziert worden seien (Projekt Urbane Nischen, Feldnotizen). Wer diese wohlhabende Dame gewesen sein könnte, ist eine von vielen Fragen auf der Spurensuche nach den Anfängen der Sedanstraße.
Vom Sichtbaren zum Unsichtbaren
Die Sedanstraße wurde ab 1886 im Wiesbadener Westend angelegt und, ganz im Stil des restlichen „Feldherrenviertels“, nach der Schlacht von Sedan (1. September 1870) benannt (vgl. Niebergall 2012, 28). Beginnend an der Walramstraße, führt sie auf einen freien Platz, der 1886 zum Sedanplatz (um)benannt wurde (vgl. Adressbuch Wiesbaden 1893-94, 395).
Der Ausbau der Sedanstraße fand innerhalb eines Jahrzehnts statt. Ihre rasche Entstehung steht in Zusammenhang mit der exponentiellen städtebaulichen Erweiterung Wiesbadens am Ende des 19. Jahrhunderts. Im Westend wurden zum Teil sehr „aufwendig gestaltete, mehrstöckige Wohnhäuser mit den dazugehörigen Hinterhofbebauungen“ (Wunderer 1995, 108) errichtet. Dieser Baustil lässt sich in der Sedanstraße beispielhaft nachvollziehen:
„Die Sedanstraße ist in geradezu kulissenhafter Geschlossenheit […] erhalten, die den Typus des schmucken unprätentiösen Handwerkhauses mit geputzter Fassade und Ziegelfassaden sogar mit noch alten Firmenschildern (Nr. 7 u. 9.) beispielhaft vor Augen führt. Dazu gehören Hinterhäuser.“ (Niebergall 2012, 29)
In den Bau der Häuser dieser und anderer Straßen im Westend haben vor allem „reiche Fabrikanten oder Kaufleute“ (Wunderer 1995, 108) investiert, aber auch Handwerksleute. Letztere sparten ein geringes Eigenkapital an, oftmals ergänzt durch Hypotheken und brachten ihre eigene Expertise in den Bauvorgang ein (vgl. Wunderer 1995, 108). Die Handwerksleute selbst lebten dann oft in den lichtarmen Hinterhöfen, um die prestigeträchtigen Wohnungen mit Blick zur Straße an die gehobenere Mittelschicht zu vermieten (vgl. Wunderer 1995, 108). „In den Mansarden und Hinterhäusern [des Westends] sammelte sich das aus dem ländlichen Umfeld zugereiste Proletariat“ (Wunderer 1995, 109). Auch ältere Menschen haben einen nicht unerheblichen Teil der lokalen Bevölkerung ausgemacht.
Anders als bei heutigen Immobilien sind die Wohnungen der oberen Stockwerke nicht die mit der höchsten Miete gewesen, wie es beispielsweise bei einer Penthouse-Wohnung der Fall wäre. Die angesehensten Wohnungen, für welche die Hauseigentümer:innen die höchsten Mietpreise verlangten, lagen oftmals im ersten Stock – auch „Beletage“ genannt (vgl. Schroubek 2008, 220). Von hier nahm der Wohnungswert jeweils nach oben und unten hin ab. Die unterschiedlichen Mietpreise beziehungsweise Wohnqualitäten der Wohnungen führten so zu einer sozialen Differenzierung der Bewohnerschaft innerhalb einzelner Wohnhäuser – ein bewusstes Ziel der Stadtplanung der Jahrhundertwende, die hier im Sinne einer durchaus modern anmutenden „städtebaulichen Hygiene“ auf soziale Durchmischung setzte (vgl. Russ 2005, 25).
Findet sich diese soziale Durchmischung gestützt von der Architektur der Wohnhäuser in der Sedanstraße wieder? Mit Hilfe der Adressbücher ist es möglich die damalige Nachbarschaft zu rekonstruieren und einen „empirischen Mikroausschnitt“ (Wietschorke 2014, 168) des damaligen Zusammenlebens zu erstellen.
Die Sedanstraße wird erstmals 1889/90 im Wiesbadener Adressbuch aufgeführt, beginnend von der Walramstraße mit den Häusern 1 bis 5. Innerhalb von zehn bis zwölf Jahren wird ihre Bebauung fertig gestellt. Zu diesem Zeitpunkt umfasst die Sedanstraße 15 Hausnummern und es ist davon auszugehen, dass alle dazugehörigen Mittel- und Hinterhausbauten fertiggestellt worden sind (vgl. Adressbuch Wiesbaden 1897/98 445 – 447, s. Abb. 7). Zur Jahrhundertwende befindet sich die Mehrheit der Häuser im Besitz von Handwerkern, die ausnahmslos im Erdgeschoss beziehungsweise Parterre des Haupthauses wohnen. Unter den Handwerkern finden sich Metzgermeister, Bäckermeister, Dachdeckermeister, Lackiermeister und Maurermeister (vgl. Adressbuch Wiesbaden 1897/98, 445 – 447). Besonders stechen die Besitzer der Häuser[1] Nummer 3 und 4 heraus. Hierbei handelt es sich um den Pferdehändler Strauss und Herrn Kipping, ein Mitglied der Kurkapelle. Beide bewohnen die Beletage, was darauf rückschließen lässt, dass sie eher der oberen bürgerlichen Mittelschicht angehört haben. Die Häuser Nummer 12, 13 und 15 befinden sich jeweils im Besitz zweier Witwen – eine nicht seltene Angabe in den Adressbüchern, da es häufig Frauen waren, die im Erbfall zu Hausbesitzerinnen wurden. Im Jahr der baulichen Fertigstellung der Sedanstraße 1897/98 wohnen noch alle Hauseigentümer:innen auf ihren jeweiligen Grundstücken. Der Witwe Dembach, die in den Adressbüchern als „Privata“[2] bezeichnet wird, gehören im Fertigstellungsjahr die Häuser Nummer 13 und 15. Sie teilt sich die Eigentümerschaft des Letzteren mit dem Maurermeister Dembach, beide sind wohl in der Sedanstraße 13 wohnhaft. Über ihr Beziehungsverhältnis kann keine genaue Aussage getroffen werden. Fest steht, dass der Witwe Dembach in Bezug auf die gesamte Sedanstraße besondere Beachtung geschenkt werden sollte.
Die Witwe Dembach – Die grande dame der Sedanstraße?
Bereits im Jahre 1890 ist Witwe Dembach die Eigentümerin der Sedanstraße 7. Bis zum Jahre 1892 bewohnt sie dort das Parterre des Haupthauses (vgl. Adressbuch Wiesbaden 1890/91, 375; 1891/92, 375) – augenscheinlich allein, ohne den Maurermeister Dembach. Für einige Jahre wird ihr Name nicht mehr in den Adressbüchern bei den Aufzeichnungen zur Sedanstraße aufgeführt, bis sie zwischen 1895/96 in die Parterrewohnung des Hinterhauses der Sedanstraße 13 zieht. Dort ist sie zunächst nur Bewohnerin, da sich das Haus Nr. 13 im Besitz des Maurermeisters Dembach befindet, der im Parterre des Haupthauses wohnt. In den Jahren 1897/98 wechseln sich die Besitzverhältnisse. Die Witwe Dembach übernimmt die Sedanstraße 13 als Eigentümerin und zieht gleichzeitig zum Maurermeister Dembach ins Haupthaus. Im selben Jahr ist zu vermuten, dass beide gemeinsam die Sedanstraße 15 erwerben. Allerdings dauert dieses Besitzverhältnis nur bis zur nächsten Ausgabe des Adressbuches 1898/99 (vgl. Adressbuch Wiesbaden 1898/99, 452) an. Nun wird der Maurermeister nicht mehr aufgeführt. Er könnte also entweder weggezogen oder verstorben sein. Die Witwe Dembach zog daraufhin in die Parterrewohnung des Mittelbaus und ist nur noch Eigentümerin der Hausnummer 13. Aufgeführt bleibt sie als solche bis ins Jahr 1901. In dieser Zeit zieht sie zwischen 1899 und 1900 in den ersten Stock des Mittelbaus und in den darauffolgenden zwei Jahren in den zweiten Stock des Mittelbaus (vgl. Adressbuch Wiesbaden 1899/1900, 488).
Eine erste Interpretation der vielen Umzüge würde auf Geldprobleme hindeuten, da Frau Dembach in die eher schlecht angesehenen Stockwerke zog und auch die Eigentümerschaft der Sedanstraße 15 aufgab. Könnte Frau Dembach jene reiche Dame sein, die den Ausbau der Sedanstraße finanziert hat, wie die Anwohnerin bei der Erkundung der Straße berichtete? Frau Dembach scheint jedenfalls gut situiert gewesen zu sein. Allerdings wirft ihre wechselhafte Wohnsituation Fragen auf. Unsere Recherchen haben dazu keine weiteren Anhaltspunkte ergeben, weswegen an dieser Stelle das Mysterium um die vermeintliche Bauherrin der Sedanstraße offenbleiben muss.
Wer will fleißige Handwerker seh’n? – Einblicke in die Nachbarschaft der Sedanstraße
Nehmen wir nun noch einmal die Häuser der Sedanstraße Nummer 7 und 13, welche die Witwe Dembach mehrere Jahre besessen hat, näher in den Blick. Denn nach dem Wechsel der Eigentümerschaft gehen die Immobilien in den Besitz von Handwerkern über. Ein Merkmal, das, wie beschrieben sehr markant für die Sedanstraße gewesen ist. Auch gegenwärtig befinden sich auf beiden Grundstücken stillgelegte Handwerksbetriebe, die in den Hinterhöfen zu finden sind.
Die Sedanstraße Nummer 7 hat in den Jahren 1892/93 bis 1894/95 einer Witwe Beck gehört. Während Witwe Beck Eigentümerin des Hauses gewesen ist und in den ersten Jahren im Parterre des Hinterhauses gewohnt hat, bezog der Dachdeckermeister Beck das Parterre des Haupthauses. In den Jahren 1893/94 ist die Witwe Beck zum Dachdeckermeister Beck ins Parterre des Haupthauses gezogen. Ein Verwandtschaftsverhältnis lässt sich vermuten. Zwischen 1895 und 1896 scheint der Dachdeckermeister ausgezogen oder verstorben zu sein, da die Witwe Beck als alleine wohnend im Parterre des Haupthauses aufgeführt wird. Im Juli 1895 gibt sie ihre Eigentümerschaft an den Dachdeckermeister Rau und seinen Bruder ab und zieht fort.
Die beiden Dachdecker Rau könnten ihren Betrieb im Jahr 1888 in der Jahnstraße oder der Dotzheimer Straße eröffnet haben, da sie dort zwischen 1889/90 (vgl. Adressbuch Wiesbaden 1889/90, 43) und 1895/96 (vgl. Adressbuch Wiesbaden 1895/96, 417) in den Adressbüchern aufgeführt werden. Die Vermutung liegt nahe, dass der Dachdeckermeister Rau die Eigentümerschaft der Sedanstraße 7 von der Witwe Beck übernommen hat und mit seiner Werkstatt in die vorhandenen Räume der früheren Dachdeckerei Beck eingezogen ist. Ob sein Bruder dort ebenfalls wohnhaft gewesen ist, geht aus den Adressbüchern nicht hervor. Allerdings lässt sich nachvollziehen, dass der Dachdeckermeister Rau bis 1918 Eigentümer der Sedanstraße bleibt, vermutlich auch darüber hinaus. Der Betrieb hat Bestand. Läuft man heute durch die Sedanstraße, so findet man über dem Eingang zum Hoftor noch das Betriebsschild der Gebrüder Rau (s. Abb. 8). Wie für das Westend typisch, ist in der Sedanstraße 7 somit über lange Zeit hinweg ein Handwerker im Besitz des Grundstückes gewesen, der die Hinterhöfe als Arbeitsplatz für sein Gewerbe nutze.
Für die Brüder Rau muss der Hinterhof als idealer Arbeitsplatz gedient haben, da der Betrieb auf über 60 Geschäftsjahre zurückblicken kann. Auch die Adressbücher geben hierfür Auskunft. Noch bis 1904 haben die Raus im Parterre des Haupthauses gewohnt (vgl. Adressbuch Wiesbaden 1903/04, 540). In den beiden Folgejahren sind sie dann in den ersten Stock – die Beletage – des Haupthauses umgezogen, vermutlich mit der Absicht, ihren Erfolg nach außen zu präsentieren. Noch heute kann man in dem Tordurchgang zum zweiten Hinterhof Wandkacheln an den Wänden bestaunen, welche zu Ehren des Dachdeckerhandwerks angebracht worden sind.
Ein Besitzwechsel der Sedanstraße 13 findet bis zum Jahre 1918 nur noch einmal statt. Der Dekorationsmaler Nocker übernimmt die Eigentümerschaft und bewohnt für die ersten drei Jahre die Wohnung im ersten Stock des Mittelbaus, zieht dann aber ab 1903 ins Parterre des Mittelbaus. Im Gegensatz zu den Gebäuden mit den Hausnummern 5, 7 und 15 haben die Grundstücke Sedanstraße 9, 11 und 13 zwei Hinterhäuser, wodurch sich ein großer und ein kleinerer Hinterhof ergeben. Somit hat die Sedanstraße 13 innerhalb der ersten Jahre ihres Bestehens nach Beendigung der Bauarbeiten mitunter die höchsten Bewohnerzahlen. Im zweiten Hinterhof des Hauses befindet sich die Werkstatt einer Schreinerei, die bis vor wenige Jahre noch in Betrieb war[3].
Der vordere Hinterhof diente den Bewohner:innen womöglich schon immer als ein Ort der Begegnung, der nicht immer einen direkten Austausch, aber oftmals doch eine „zur Kenntnisnahme“ der unterschiedlichen Lebensumstände zwischen Vorder- und Hinterhaus förderte (vgl. Schroubek 2008, 221; 229). Währenddessen diente der zweite Hinterhof sicherlich auch damals schon als Arbeitsplatz für kleinere Handwerksbetriebe. Zwar gibt es hierfür keine direkten Belege, aber im Jahr der Hausübernahme durch Herrn Nocker wäre es bei der Betrachtung der Wohnungsbelegung durchaus denkbar. Ordnet man die Angaben des Adressbuches von 1901/02 nach Häusern und Stockwerken an, so wird ersichtlich, dass nicht nur die Mansarde – die gesellschaftshistorisch betrachtet am niedrigsten angesehene Hinterhausdachwohnung – leer gestanden hat, sondern auch das Parterre des Hinterhauses (Wiesbadener Adressbuch 1901/02, 509). Dies kann darauf hindeuten, dass das Erdgeschoss schon damals als Werkstatt für einen Betrieb gedient haben könnte. Es wären ausreichend Handwerker unter den Bewohnern vertreten gewesen.
Doch ob nun Herr Nocker die Räumlichkeiten als Abstellkammer für seine Malerutensilien verwendet hat, der Schuhmacher Bös aus dem zweiten Stock des Hinterhauses, die in Auftrag gegebene Schuhe repariert hat, Herr Schwab einmal schnell vom gegenüberliegenden Mittelbau herüber geeilt ist, um die neu angekommenen Bücher zu binden, die er dann dem Buchhändler Dornauf, nur zwei Stockwerke über ihm wohnend, überreicht hat oder der Schreinergeselle Kern aus dem zweiten Stock des Haupthauses gemeinsam mit dem Schreinergehilfen Lubadel die Werkstatt auf Vordermann gebracht hat, bevor der (außerhalb wohnende) Schreinermeister von seinem Materialeinkauf zurückkehren würde – all das sind nur mögliche Interpretationen, die es lediglich zu vermögen versuchen, dem verborgenen Vergangenen Leben einzuhauchen.
Was bleibt
Die Geschichten der ersten Bewohner der Sedanstraße können heute nur noch in Bruchstücken erzählt werden. Doch was uns bis in die Gegenwart erhalten geblieben ist, sind die architektonischen Strukturen der Gebäude und der Hinterhöfe. Sie berichten über eine Zeit in der das Westend rasant gewachsen ist und immer mehr Menschen vom Land in die Stadt gezogen sind, um sich dort ein besseres Leben aufzubauen. Gleichzeitig verweisen die Häuser hinter den Häusern auf eine noch stärker ausdifferenzierte Klassengesellschaft und schon damals beginnende innerstädtische Wohnraumverknappung. Die Adressbücher nennen nicht bloß Namen, sondern auch Berufsstände und zeugen von einer Zeit, zu der sich viele Handwerker in der Sedanstraße niederließen, als das Handwerk lukrativer war, als es in unserer heutigen Dienstleistungsgesellschaft der Fall ist und „Homeoffice“ noch eine andere Bedeutung hatte.
Für mich ist die Sedanstraße mit ihren schlichten, aber zeitlos schicken Backsteinfassaden einzigartig. Gleichzeitig ist sie durch ihre Bauweise ein Ort, der stellvertretend für viele ähnliche Nischen im Westend steht.
[1] Wenn im Folgenden von Häusern gesprochen wird, so sind, sofern nicht anders beschrieben, alle Gebäude auf dem Grundstück einer Hausnummer gemeint.
[2] Privatier ist ein veralteter Begriff, der eine Person (oft männlich) beschreibt, die „von [ihrem] Vermögen oder einer (nicht staatlichen) Rente“ (DWDS 2021) lebt und sich ins Privatleben zurückgezogen hat.
[3] Nachweise für das Bestehen der Schreinerei lassen sich durch mehrere Wiesbadener Branchenverzeichnisse belegen (vgl. Branchen-Info 2021).
Literatur
Branchen-Info (2021). https://wiesbaden.branchen-info.net/fp_1803780.php [14.07.2021]
DWDS – Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (2021). Das Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. https://www.dwds.de/wb/Privatier [19.03.2021].
Niebergall, Rainer (2012). Straßen erzählen Geschichte(n). Von Hinterhöfen und sozialem Wohnungsbau. Das Westend. Wiesbaden: o.V.
Russ, Sigrid (2005). Wiesbaden Stadtgestalt und Stadtentwicklung. In: Dies. Kulturdenkmäler in Hessen. Wiesbaden I.2. Stadterweiterungen innerhalb der Ringstraße. (Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland, hrsg. v. Landesamt für Denkmalpflege Hessen). (5–54). Stuttgart: Theiss.
Schroubek, Georg R. (2008). Beletage und Hinterhof. Gemeinsames Wohnen in einer geschichteten Gesellschaft. In: Ders. (Hg.). Studien zur böhmischen Volkskunde (219–230). Münster u.a.: Waxmann.
Spielmann, Christian & Krake, Julius (2002). Historischer Atlas der Stadt Wiesbaden. 12 digitalisierte stadtkarten von 1700-1910 auf CD-Rom mit Begleitbuch. Bearbeitet von Thomas Weichel unter der Mitarbeit von Rudolf Krämer. Wiesbaden: Stadtarchiv.
Spiritova, Marketa (2014). Narrative Interviews. In: Bischoff, Christine; Oehme-Jüngling, Karoline u. Leimgruber, Walter (Hrsg.). Methoden der Kulturanthropologie (117-130). Bern: Haupt.
Wietschorke, Jens (2014). Historische Kulturanalyse. In: Bischoff, Christine; Oehme-Jüngling, Karoline u. Leimgruber, Walter (Hrsg.). Methoden der Kulturanthropologie (160-176). Bern: Haupt.
Wunderer, Hartmann (1996). Feldherren und Tintenkleckser. Portrait eines Stadtteils. In: Honekamp, Gerhard (Hg.). Wiesbaden – Hinterhof und Kurkonzert. Eine illustrierte Alltagsgeschichte von 1800 bis heute. (Eine Publikation der Wiesbadener Geschichtswerkstatt e.V.) (108–111). Gudensberg-Gleichen: Wartberg.
Quellen
Adressbuch der Residenzstadt Wiesbaden und Umgegend, 1890/91. Wiesbaden: Carl Schnegelberger. Online-Ausgabe: Wiesbaden: Hochschul- und Landesbibliothek RheinMain. https://hlbrm.digitale-sammlungen.hebis.de/adressbuecher-hlbrm/ periodical/structure/3093493 [02.03.2021].
Adressbuch der Residenzstadt Wiesbaden und Umgegend, 1891/92. Wiesbaden: Carl Schnegelberger. Online-Ausgabe: Wiesbaden: Hochschul- und Landesbibliothek RheinMain. https://hlbrm.digitale-sammlungen.hebis.de/adressbuecher-hlbrm/ periodical/structure/3093494 [02.03.2021].
Adressbuch der Residenzstadt Wiesbaden und Umgegend, 1893/94. Wiesbaden: Carl Schnegelberger und Cie. Online-Ausgabe: Wiesbaden: Hochschul- und Landesbibliothek RheinMain. https://hlbrm.digitale-sammlungen.hebis.de/adressbuecher-hlbrm/periodical/structure/3093496 [02.03.2021].
Adressbuch der Residenzstadt Wiesbaden und Umgegend, 1895/96. Wiesbaden: Carl Schnegelberger und Cie. Online-Ausgabe: Wiesbaden: Hochschul- und Landesbibliothek RheinMain. https://hlbrm.digitale-sammlungen.hebis.de/adressbuecher-hlbrm/periodical/structure/3093498 [02.03.2021].
Adressbuch der Residenzstadt Wiesbaden und Umgegend, 1897/98. Wiesbaden: Carl Schnegelberger und Cie. Online-Ausgabe: Wiesbaden: Hochschul- und Landesbibliothek RheinMain. https://hlbrm.digitale-sammlungen.hebis.de/adressbuecher-hlbrm/periodical/structure/3099903 [02.03.2021].
Adressbuch der Residenzstadt Wiesbaden und Umgegend, 1898/99. Wiesbaden: Carl Schnegelberger und Cie. Online-Ausgabe: Wiesbaden: Hochschul- und Landesbibliothek RheinMain. https://hlbrm.digitale-sammlungen.hebis.de/adressbuecher-hlbrm/periodical/structure/3099904 [02.03.2021].
Adressbuch der Residenzstadt Wiesbaden und Umgegend, 1899/1900. Wiesbaden: Carl Schnegelberger und Cie. Online-Ausgabe: Wiesbaden: Hochschul- und Landesbibliothek RheinMain. https://hlbrm.digitale-sammlungen.hebis.de/adressbuecher-hlbrm/periodical/structure/3099905 [02.03.2021].
Adressbuch der Residenzstadt Wiesbaden und Umgegend, 1901/1902. Wiesbaden: Carl Schnegelberger und Cie. Online-Ausgabe: Wiesbaden: Hochschul- und Landesbibliothek RheinMain. https://hlbrm.digitale-sammlungen.hebis.de/adressbuecher-hlbrm/periodical/structure/3099907 [02.03.2021].
Adressbuch der Residenzstadt Wiesbaden und Umgegend, 1903/1904. Wiesbaden: Carl Schnegelberger und Cie. Online-Ausgabe: Wiesbaden: Hochschul- und Landesbibliothek RheinMain. https://hlbrm.digitale-sammlungen.hebis.de/adressbuecher-hlbrm/periodical/structure/3099909 [02.03.2021].
Interview Schickel (2020). Interview mit Peter Schickel, geführt am 19.06.2020 von Timo Knecht in Wiesbaden.
Projekt Urbane Nischen. Feldnotizen zum Interview mit Peter Schickel vom 19.06.2020.