Kaffeeduft im Hinterhof – Die Maldaner Coffee Roasters und die Creative Class im Westend
Kaffeeduft im Hinterhof – Die Maldaner Coffee Roasters und die Creative Class im Westend
Der Hinterhof der Kaffeerösterei „Maldaner Coffee Roasters“ wird in diesem Beitrag zum Ausgangspunkt einer Erzählung über die Geschichte des Hofes in der Hellmundstraße 37 sowie über den Einfluss der Creative Class auf das Westend. Das Beispiel dieser dreifachen Stadtteilnische im architektonischen, ökonomischen und soziokulturellen Sinne zeigt, dass sich die Vielfalt des Wiesbadener Westends gerade in seinen Hinterhöfen entdecken lässt.
Paula Schubert
Wer montagmorgens die Hellmundstraße entlanggeht, muss nur seiner Nase folgen, um die „Maldaner Coffee Roasters“ zu entdecken. Denn von hier breitet sich ein aromatisch-würziger Kaffeeduft aus, der sich seinen Weg durch den Hinterhof bis zur Straße bahnt. Dieser Geruch entsteht beim Rösten der Kaffeebohnen im Trommelröster (Abb. 1). Zwei solcher Röster stehen mitten im modern und minimalistisch eingerichteten Raum des Start-ups in der Hellmundstraße 37. Weiße Backsteinwände, glatter und grauer Betonboden, Theke und Regale aus Metall und Holz sowie die große, silberglänzende Kaffeemaschine verleihen diesem Ort einen industriellen Look (Abb. 2). Doch das war nicht immer so, erinnert sich Sebastian Schulz, der Gründer der Rösterei, an seinen ersten Eindruck der Räumlichkeiten: „Es sah hier sehr übel aus“ (Interview Schulz 2020).
Bevor der Wiesbadener sein Geschäft in der Hellmundstraße 37 im März 2018 eröffnete, war in dem Gebäude bis 2006 die Schlosserei Philippi ansässig (vgl. Philippi Metallbau 2020b). Das heute in fünfter Generation geführte Metallbauunternehmen wurde 1866 von Carl Philippi gegründet und bestand somit schon vor der offiziellen Eröffnung der Hellmundstraße 1869, die kurzzeitig Wiesenstraße hieß (vgl. Philippi Metallbau 2020a; StadtA WI, Straßenkartei Wiesbaden). Die ehemalige Kunst- und Bauschlosserei hat ihren Sitz heute in Wiesbaden-Bierstadt (vgl. Philippi 2020b).
Auf Wunsch der Anwohner:innen wurde die Wiesenstraße am 10.11.1869 in Hellmundstraße umbenannt, um an den Gründer des Wiesbadener Waisenhauses, Egidius Günther Hellmund, zu erinnern (vgl. StadtA WI, Straßenkartei Wiesbaden). Hellmund war lutherischer Geistlicher und Pietist und seit 1721 in Wiesbaden als Inspektor und Oberpfarrer tätig (vgl. Müller-Werth 1969, 486f.). Der Nächstenliebe verpflichtet, war das Wiesbadener Waisenhaus sein Lebenswerk (vgl. Emde 1939). Er errichtete zudem einen Buchladen, eine Manufaktur sowie eine Walk- und Schleifmühle und unterstütze das Hospital und den Bau eines Armenbadehauses (vgl. Müller-Werth 1969, 486f.).
„Wer geht denn ins Westend?“
Zurück zum Hinterhof der Hellmundstraße 37: Nach dem Umzug der Philippi GmbH & Co KG im Jahr 2006, wurden die Räume der ehemaligen Schlosserei zwischen 2010 und 2017 von der Stenzel GmbH genutzt, einem Familienunternehmen, das seit über 100 Jahren Maschinenhandel betreibt (vgl. Stenzel 2021). Nach deren Umzug nach Oestrich-Winkel mietete dann Sebastian Schulz ab 2017 die Räumlichkeiten, um hier seine Idee von einer Alternative zum konventionellen Kaffeehandel zu verwirklichen (vgl. Maldaner Coffee Roasters 2020). Eine persönliche sowie eine geschäftliche Verbindung besteht zum 1859 gegründeten Kaffeehaus „Maldaner“. Dessen Inhaber:innen, Renate Schulz-Winkel und Michael Schulz, sind die Eltern von Sebastian Schulz (vgl. ABZ 2015). Die „Maldaner Coffee Roasters“ bezeichnen das Café in der Marktstraße 34 als „Stammhaus“ (Maldaner Coffee Roasters 2020) und beliefern das „1. Original Wiener Kaffeehaus Deutschlands“ (Maldaner 2020) mit der eigenen Röstung.
Sebastian Schulz ist durch seine Eltern schon in jungen Jahren in Kontakt mit der Gastronomie gekommen. Doch seine Ausbildung machte er in einem gänzlich anderen Bereich. Er studierte Marketing und Kommunikation und sammelte Erfahrungen in der IT-Branche (vgl. Schlieker 2018). Dieser Hintergrund spiegelt sich auch im professionellen Medienauftritt der Rösterei wider, so zum Beispiel auf Instagram. Hier stellt Schulz sein Unternehmen als „traditionelles Unternehmen mit modernem und innovativem Ansatz“ dar (Interview Schulz 2020). Globale Vernetzung, Nachhaltigkeit und Handelstransparenz seien die Maxime der Wiesbadener Rösterei (vgl. Maldaner Coffee Roasters 2020). Für diese Idee und für ihre Umsetzung erhielt Schulz den Hessischen Gründerpreis in der Kategorie „Mutige Gründung“ im Jahr 2018 (vgl. Hessischer Gründerpreis 2018).
Mutig erschien manchen auch der Schritt ins Westend. Eigentlich wollte Sebastian Schulz sein Start-up in der Wagemannstraße, in Nähe zum Maldaner Café, eröffnen (vgl. Interview Schulz 2020). Ein Wasserrohrbruch zwang ihn einen anderen Standort für die Rösterei zu suchen und so entschied er sich für das Westend, obwohl ihm dort die finanzielle Sicherheit fehlte. „Wer geht denn ins Westend?“, wunderten sich die Bankberater:innen und verweigerten ihm seinen sichergeglaubten Kredit (vgl. Interview Schulz 2020). Der Skepsis trotzend baute Schulz die Räume in der Hellmundstraße in sechs Monaten um und eröffnete im März 2018 (vgl. Maldaner Coffee Roasters 2020). Der Kaffeeverkauf vor Ort und die Eröffnung eines Cafés waren eigentlich nicht geplant, doch das Westend mit seiner großen Vielfalt hätte ihn und sein Team davon überzeugt, diesen Schritt zu wagen (vgl. Interview Schulz 2020).
Heute beliefert die Rösterei gewerbliche sowie Privatkund:innen in ganz Deutschland und ist in anderen Städten wie Köln oder Berlin sogar bekannter als im Raum Wiesbaden (vgl. Interview Schulz 2020; Maldaner Coffee Roasters 2020). Ab 2021 will Schulz den Fokus verstärkt darauf legen, eine Onlineplattform aufzubauen, die fairen und transparenten Kaffeehandel ermöglicht. Um dies zu erreichen, sei es wichtig „die Wertschöpfungskette ganz zu gehen“ (Interview Schulz 2020), vom Import, über das Rösten, bis hin zum Verkauf. Der erste Schritt in Richtung eines nachhaltigen Handels sei der Aufbau einer eigenen Rösterei im Westend gewesen (vgl. Maldaner Coffee Roasters 2020).
Im Westend: Das Zuhause der „Maldaner Coffee Roasters“
Heute wirkt es so, als seien die „Kaffeenerds“ (vgl. Maldaner Coffee Roasters 2020), wie sich Sebastian Schulz und seine Mitarbeiter:innen selbst nennen, im Westend angekommen (Abb. 3). Angesprochen auf die Atmosphäre des Viertels erklärt Schulz: Die Entscheidung, sich mit seinem Gewerbe im Westend1 [Verlinkung Text Lukas Blank] niederzulassen, sei ein „Statement“ (Interview Schulz 2020). Das Westend sei, obwohl es mitten in der Innenstadt liegt, eine Nische in Wiesbaden. Die bekannten Einkaufsketten seien hier nicht zu finden.
Trotz der Lage der Kaffeerösterei, seien „typische“ Westendler:innen jedoch eher selten unter der Kundschaft zu finden (vgl. Interview Schulz 2020). Sebastian Schulz betont, dass er und sein Team keinen Unterschied zwischen den Kund:innen aus dem Westend und anderen Vierteln sehen würden. Sie seien bestrebt, „Integrationsarbeit“ (Interview Schulz 2020) zu betreiben und zu versuchen das innere Westend1 [Verlinkung Text Erdal Aslan], seinen Charme, seine Vielfalt und seine „wuselige Atmosphäre“ (Interview Schulz 2020) beliebter werden zu lassen. Zum jetzigen Zeitpunkt kämen eher Leute aus anderen Stadtteilen und „die Schlipsträger“ (Interview Schulz 2020), die das Westend als einen problematischen und gefährlichen Bezirk ansähen. Das Vorurteil ist nicht unbekannt: In Zeitungsberichten über das innere Westend sind vor allem Wellritz- und Bleichstraße, die durch die Hellmundstraße verbunden werden, als „Kriminalschwerpunkte“ (Bock 2020) beschrieben. Sie gelten als gefährliche Straßen (vgl. Bock 2020), die nah am „Angstraum“ (Bock 2020) Platz der Deutschen Einheit liegen. Doch was macht das Westend und eine:n typische:n Westendler:in eigentlich aus?
Laut Statistik hat er oder sie ein niedrigeres Bildungsniveau, besitzt weniger Kaufkraft als der Wiesbadener Durchschnitt und wohnt in einer Wohnung zur Miete. Fast jede:r zweite Bewohner:in des Westends hat einen Migrationshintergrund (vgl. Amt für Statistik und Stadtforschung Wiesbaden 2020). Über 18.000 Menschen leben auf den 0,67km2 des Westends, dem kleinsten der Wiesbadener Ortsbezirke, und machen es zu einem der am dichtesten besiedelten Stadtteile Deutschlands (vgl. Amt für Statistik und Stadtforschung Wiesbaden 2020; Butzek 2016). Hier ist fast jeder vierte Haushalt von Sozialleistungen abhängig und die Kinderarmut ist entsprechend hoch (vgl. Wiesbaden 2021). Das innere Westend ist durch einen internationalen Bevölkerungs- und Branchenmix geprägt und zeichnet sich durch eine „sehr heterogene Nutzungs- und Bevölkerungsstruktur“ aus (Wiesbaden 2021). Im Gegensatz zum äußeren Westend, wo viele junge Familien und Studierende leben, wird es als „sogenannter ‚Sozialer Brennpunkt‘“ (Kubis 2021) und kriminelles Problemviertel bezeichnet (vgl. Bock 2020). Wohnen auf zu engem Raum, fehlende Parkplätze und vermüllte Straßen sind ebenfalls seit Jahren Probleme des Viertels (vgl. Amt für Strategische Steuerung, Stadtforschung und Statistik 2015; Solter 2019). Eine 2019 gestartete kommunale Sicherheitsinitiative des hessischen Innenministeriums („Kompass“) soll dabei helfen, die Sicherheit und das Sicherheitsgefühl im gesamten Viertel zu verbessern (vgl. Kaul 2019).
Im Hinterhof der Hellmundstraße 37
Von diesen Problemen ist im Hinterhof der Rösterei nichts zu spüren. Vielmehr sei man hier „in einer ganz anderen Welt“ (Interview Schulz 2020). Der Hof stellt einen Kontrast zu den schnelllebigen und vollen Straßen des inneren Westends dar. Schulz versteht diesen Hinterhof als einen „Raum der Gemeinschaft. Raum für Kaffeekultur im Endeffekt.“ (Interview Schulz 2020). Nicht nur das Zusammenkommen von Menschen über die Generationen hinweg, sondern auch das gegenseitige Kennenlernen in ruhiger und entspannter Atmosphäre stünden hier im Vordergrund (vgl. Interview Schulz 2020). Schulz ist davon überzeugt: „Kaffee ist eine Sprache, die jeder spricht“ (Interview Schulz 2020).
Wer die Rösterei und ihren Hinterhof besucht, den fordert schon am Eingangstor ein Schild dazu auf, sich den „guten Stoff“ zu holen (Abb. 4). Nach ein paar Schritten, einer Links- und Rechtskurve, eröffnet sich der Blick auf den Hinterhof, in dem man nach dem Passieren eines kleinen tunnelartigen Gangs steht (Abb. 5). Sofort fällt das industrielle, schlichte Erscheinungsbild des Hofs auf, das der graue Betonboden, die Backsteinwände und die anthrazitfarben gerahmten Fenster hervorrufen (Abb. 6.). Das schwarzweiße Schild über der (etwas schwer zu öffnenden) Eingangstür mit dem Schriftzug „Maldaner. Stadtrösterei“, passt zu diesem Look. Viele kleine Topfpflanzen und Bäumchen, die an den Seitenwänden des Hofes stehen, erzeugen eine gemütliche Atmosphäre und einen Kontrast zum industriellen Flair.
Holzbänke, kleine Tische und Hocker laden zum Verweilen ein (Abb. 7). Wer sich für einen Kaffee entschieden hat – was nicht ganz leichtfällt, da Brühmethode, Röstgrad und Geschmack zu wählen sind – kann ihn bei passender Witterung im Hinterhof der Rösterei genießen. Er wurde während des Corona-Sommers 2020 auch als möglicher Homeoffice-Ort entdeckt. Ein Anwohner, der den Hinterhof für private Zwecke nutzen darf, nennt dies „Hof-Office“ (Projekt Urbane Nischen, Protokoll zur Station „Get in“). Er erzählt, dass die Pflanzen das Klima im Hinterhof während heißer Sommertage verbessern und es ermöglichen, sich dort entspannt aufzuhalten. Häufig sei der Hof aber auch nur Durchgangsort, da viele Leute vorbeikämen, um sich einen Coffee to go mitzunehmen. Die Maldaner Hinterhofrösterei vereint somit Funktionen und Merkmale eines Hinterhofs und eines Cafés und schreibt dabei Traditionen fort, die mit der Kulturgeschichte des Hinterhofs und des Kaffeetrinkens eng verbunden sind.
Ob aus Malz oder Bohne, es ging nie ohne – ein Exkurs
Hinterhöfe waren im 19. Jahrhundert meist mehr oder weniger gepflasterte Durchgangsorte, die als Spielplatz, als Hauswirtschaftsraum zum Holzhacken und Teppichklopfen oder als Mülllager dienten (vgl. Schroubek 1983, 224). Später wurden sie aufgeräumter, aber ihre Nutzung war weiterhin vom alltäglichen Arbeits- und Tagesrhythmus geprägt (vgl. Schroubek 1983, 225). Der Hinterhof war also schon immer Begegnungsort, jedoch eher im Kontext des Arbeitens und nicht des Entspannens. Der Volkskundler Georg R. Schroubek beschreibt allerdings auch, dass an Werktagen Malzkaffee und an Sonn- und Feiertagen „echter“ Kaffee gekocht wurde (Abb. 8 u. 9), dessen Duft in den Hinterhof, aus der ihm zugewandten Küche, drang (vgl. Schroubek 1983, 226). Im Hof der „Maldaner Coffee Roasters“ ist dieser Kaffeeduft noch heute zu erschnuppern, jedoch wird dabei niemand mehr an Kaffee als ein Luxusgut denken.
Der Historiker Hans Jürgen Teuteberg erläutert, dass es im 19. Jahrhundert eine Art Kaffeeboom gab, was sich in der Verdopplung des Kaffeeverbrauchs in Deutschland zwischen 1800 und 1850 ablesen lässt (vgl. Teuteberg 1988, 200). Waren Kaffeehausbesuche und der Kaffeekonsum zunächst dem Adel und den Wohlhabenden vorbehalten, setzte sich das Kaffeetrinken Ende des 19. Jahrhunderts in allen Bevölkerungsschichten durch (vgl. Teuteberg 1988, 189; 196). Es etablierte sich das „jedermann zugängliche Café“ (Teuteberg 1988, 189), das auch im Wiesbaden der 1930er Jahre zahlreich zu finden war (vgl. Adressbuch Wiesbaden 1934/35, 9–10). Die Beliebtheit des oft ritualisiert anmutenden Kaffeetrinkens zur Morgenstunde oder zur Mittagszeit ist bis in die Gegenwart geblieben.
Heute ist bekannt, dass Kaffee psychosoziale Bedürfnisse des Menschen, wie das nach Entspannung oder nach mitmenschlicher Kommunikation, befriedigt (vgl. Teuteberg 1988, 200). Diese Effekte seien für den „gesellschaftsverbindenden Charakter des Kaffeehauses […] [und] für den Fortgang der Zivilisation und damit auch für den sozio-kulturellen Wandel“ (Teuteberg 1988, 200f.) verantwortlich. Durch den Kaffee und das Kaffeehaus seien verschiedenste Bereiche der Kultur, aber auch der Wirtschaft und Politik inspiriert und beeinflusst worden (Abb. 10) (vgl. Teuteberg 1988, 200f.).
Das Speciality Coffee Start-Up als Teil der Creative Class
Sebastian Schulz spricht davon, dass junge Leute Rituale und Tradition lieben: „Wir wollen uns da auch immer mal ein bisschen festhalten, das ist wie ein Anker, ein Hafen, in den wir reinsteuern wollen und auch mal unsere Seele baumeln lassen.“ (Interview Schulz 2020). Wenn das Ritual des Kaffeetrinkens also eine Art Ankersetzen ist, dann kann, um Schulz’ Metapher weiterzuführen, der Hinterhof im Westend als der Hafen verstanden werden. Dieser Hafen werde zum Bedauern des Gründers nicht von allen Menschen aus dem vielfältigen Spektrum an Gesellschaftsschichten im Westend angesteuert. Die Vermutung liegt nahe, dass vor allem Leute aus der sogenannten Creative Class, zu der die „Maldaner Coffee Roasters“ selbst gehören, vorbeikommen.
Der Begriff der Creative Class wurde von dem Wirtschaftsgeographen Richard Florida im Jahr 2002 in Aufsätzen und in seinem Buch „The Rise oft the Creative Class“ etabliert (vgl. Merkel 2017, 69). Darin stellt er die These auf, dass Kreativität für Unternehmen und für Städte „zur entscheidenden Produktivkraft und Ressource für Wettbewerbsvorteile“ (Merkel 2017, 71) geworden ist. Seine städtische Wachstumstheorie basiert auf den drei T‘s: Technologie, Talent und Toleranz (vgl. Florida 2012, 11). Die neue Klasse, die kreative Klasse, würde die wirtschaftliche Entwicklung sowie die Gegenwart mit ihren eigenen Normen, wie Individualität und Unvoreingenommenheit, prägen (vgl. Florida 2012, 10). Diese Ideen haben seit dem Erscheinen seines Werks weltweite Popularität erlangt und kontroverse Diskurse zu den Themen Kreativität und Stadtentwicklung ausgelöst (vgl. Merkel 2017, 70).
Sebastian Schulz berichtet von verschiedenen Einfällen und deren Umsetzung, die den Ideen der Creative Class-Theorie von Florida entsprechen. Zu nennen sind hier zum Beispiel gemeinschaftsfördernde und spontane Aktionen, wie Fahrradtouren mit anschließendem Kaffeetrinken oder das Mitwirken am kurzfristig wegen der Corona-Krise initiierten Biergarten „Kiezgarten“ am Sedanplatz im Westend (s. Abb. 11) (vgl. Interview Schulz 2020). Schulz verneint zwar konkrete Ziele für das Westend zu haben, formuliert aber seine Wünsche nach mehr Varianz im Viertel – einem Durchbrechen der „Monokultur von Dönerläden, Friseurläden und Kosmetik[-Studios]“ (Interview Schulz 2020) – sowie nach ökonomischer und sozialer Vielfältigkeit. Diese Wünsche basieren auf den neuen Normen der Creative Class und zeigen die wechselseitige Verbindung zwischen einem Wandel des Westends und einer Weiterentwicklung seines Unternehmens auf.
Dem Gründer Schulz ist es zudem wichtig, dass im Zuge stetigen Experimentierens „Neues entsteht“ (Interview Schulz 2020), nicht nur Start-up-intern, sondern auch in dem von ihm gebotenen Raum für Kaffeekultur, denn „am Ende ist er da, um dich zu inspirieren, um zu diskutieren und neue Ideen zu entwickeln“ (Interview Schulz 2020). Diesen Raum für Kreativität zu bieten und ihn zu beschützen, sichert laut Florida auch auf lange Sicht die technologische sowie ökonomische Kreativität: „Moreover, technological and economic creativity are nurtured by and interact with artistic and cultural creativity.” (Florida 2012, 6). Dort, wo die kreative Klasse sich niederlässt, verändert sich das urbane Bild (vgl. Florida 2012, 11). „Die kreative Klasse sucht authentische Orte mit Multifunktionalität und kultureller Diversität als Erfahrungsraum.“ (Merkel 2017, 73) und treibt gleichzeitig Diversifizierungsprozesse mit an. Schulz verbindet seinen Traum von einem vielfältigen Westend mit dem Gedanken, aus „Wiesbaden eine lebenswertere Stadt“ (Interview Schulz 2020) machen zu wollen.
Der Sozialwissenschaftler Albrecht Göschel kritisiert an Floridas These, dass eine Attraktivitätssteigerung für die Creative Class und deren Präsenz auch immer mit Verdrängung bestimmter, häufig benachteiligter, Bevölkerungsgruppen einhergeht (vgl. Göschel 2007, 41). Schulz spricht von einer „Avantgarde-Zielgruppe“ (Interview Schulz 2020), die man im Westend brauche. Muss für diese Wunschzielgruppe eine andere Gruppe weichen, wie es Göschel als unausweichliche Konsequenz der Ansiedlung der kreativen Klasse behauptet?
Die dreifache Nische und ein Blick in die Zukunft
Noch wagen sich wenige neue Betriebe ins Westend, denn das Westend an sich ist aufgrund seiner soziokulturellen Struktur eine Nische in Wiesbaden (vgl. Interview Schulz 2020). Neben dem Alleinstellungsmerkmal des fairen und transparenten Kaffeehandels, sieht Schulz gerade in der Lage seiner Rösterei im inneren Westend etwas Besonderes: Sie liegt in einem „Geheim-Spot“ (Interview Schulz 2020). Somit könnte man, um in der Marketingsprache von Schulz und seinem Team zu sprechen, sagen, dass die Nische Westend und die Nische Hinterhof unique selling points der Rösterei sind: die soziokulturelle, ökonomische und architektonische Nische als etwas Außergewöhnliches, das es zu entdecken gilt. Schulz ist überzeugt, dass es immer etwas Neues und Besonderes zu entdecken geben sollte und kann sich für seine Zukunft im Westend viel vorstellen. Von einer eigenen Bierbrauerei und einer Vergrößerung der Rösterei ist die Rede. Autofrei, diversifiziert und ohne Ladengeschäfte von großen Ketten, so wünscht sich Kreativklässler Schulz das Westend der Zukunft (vgl. Interview Schulz 2020). Die Ziele der kreativen Klasse sind immer eine treibende Kraft für Veränderungen, auch im Westend:
„The Creative Class is also the key force that is reshaping our geography, spearheading the movement back from outlying areas to urban centers and close-in, walkable suburbs.” (Florida 2012, 11).
Und trotzdem weiß Schulz, dass es weiterhin viel zu tun gibt, da es ein hohes Risiko birgt ein Unternehmen zu führen, das eine dreifachen Nische – eine soziokulturelle, ökonomische und architektonische – verkörpert: „Ich glaube Corona hat uns das erste Mal gezeigt, dass wir uns auch lokal positionieren müssen und das ist ganz gut geglückt eigentlich. Ja, wir müssen mehr aufmachen.“ (Interview Schulz 2020). Er sehe sich als jemand, der Brücken schlägt „zwischen Tradition und Moderne“ (Interview Schulz 2020). Das Fundament für die Brücke zwischen der Creative Class und der Westendbevölkerung ist bereits gegossen, in Form der Hinterhof-Rösterei in der Hellmundstraße 37. Schulz’ Ansätze weisen nach Florida auf eine positive Zukunft hin: „the long-run winners are those who can create and keep creating” (Florida 2012, 6).
Literatur
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Quellen
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