Erinnerungen an meine Kinder- und Jugendzeit im inneren Westend der 1940er Jahre
Erinnerungen an meine Kinder- und Jugendzeit im inneren Westend der 1940er Jahre
Hans Peter Schickel ist ein Kind des Westends. Er ist hier aufgewachsen und hat sein ganzes Leben in den Straßen und Hinterhöfen des Westends verbracht. In seinem Beitrag blickt Hans Peter Schickel auf seine Kindheit im „Dorf Wellritzstraße“ in den 1940er-Jahren zurück. In seinen Erinnerungen werden die Alltagswelten der Kriegs- und Nachkriegsjahre wieder lebendig, mit Traditionsgeschäften und Räucherkammergeruch, mit Holzkleppern und Klickerspiel, mit Vollalarm und Luftschutzkellern, mit Kippenstechern und Hamsterfahrten…
Hans Peter Schickel
Kinderland Wellritzstraße
IPhone, iPad, Gameboy, ein Notebook zum Surfen im Internet – was steht Kindern heute zur Freizeitgestaltung alles zur Verfügung, vorausgesetzt die Eltern oder Großeltern können oder wollen es sich leisten. So gesehen waren wir Kinder der 1940er-Jahre arm dran, denn all diese elektronischen Zerstreuungen waren noch nicht erfunden. Aber waren wir wirklich arm dran? Wir wussten es nicht besser und unser Spielbedürfnis war – wenn gerade kein Fliegeralarm war – ebenso ausgeprägt wie das heutiger Kinder.
Ich bin in dem Wohnhaus Wellritzstraße 47 aufgewachsen. Spielorte waren die Straße und der Hof, auch der Sedanplatz, der als zweigeteilter Spielplatz gestaltet war – eine große Fläche in Richtung Weißenburgstraße, ein kleinerer Teil im vorderen Bereich. Eine Fußgängerpassage für den Durchgang zwischen Westend- und Wellritzstraße bildete die Trennlinie. Der größere Teil war mit einer Sandgrube ausgestattet und geschnittene Hainbuchenhecken bildeten die Umrandung, in denen es zu meiner Freude von Marienkäfern (wir nannten sie Herrgottstierchen) nur so wimmelte.
Auf der Straße zu spielen war weniger gefährlich als heute, denn es gab kaum Autoverkehr. Die Gruppe der ähnlich alten Nachbarskinder (die Wissenschaft nennt sie heute Peergroup) war für häufige gemeinsame Aktionen sehr wichtig. Wir spielten Hickel: Mit Kreide auf den Bürgersteig aufgezeichnete Zahlenfelder mussten durch einbeiniges Hüpfen bewältigt werden, was „Hickeln“ hieß (das gibt es vereinzelt noch heute). Wir spielten Verstecken. Einer der Abzählreime lautete: „Eins, zwei, drei, vier Eckstein, alles muss versteckt sein….“, wer übrig blieb, musste suchen. Mit buntgefärbten kleinen gebrannten Kugeln, Klicker genannt, und mit weitaus wertvolleren Glasmurmeln wurde eine Art Mini-Golf gespielt, indem diese mit Fingerschnick in vorbereitete Kuhlen geschnippt wurden. Die Geschicktesten konnten die Klicker einsacken. Für „Stadt – Land – Fluss“ benötigte man ein Taschenmesser und eine unversiegelte, wassergebundene Bodenfläche. Mit dem Messer wurden Territorien markiert, die danach mit Messerwurf „erobert“ wurden – wohl die aggressive Hitler’sche Expansionspolitik nachahmend. Eine kleine Kinderwunderwelt bildete der Spielwarenladen Weber in der oberen Hellmundstraße gleich links um die Ecke von der Wellritzstraße aus gesehen. Seine Wunder aus Papierflitter und Pappmaché waren für mich ohne jegliches Taschengeld unerschwinglich.
Die Grundstücke Nr. 45 und 47 hatten einen gemeinsamen Hof. Wir spielten zwischen Mülltonnen. Atmosphärisch war stets ein Duft von Rauch wahrnehmbar. Es residierte damals ein Metzger in dem Ladengeschäft zwischen den beiden Hauseingängen (heute ein Imbiss) und der Geruch kam von seiner Räucherkammer. Obligatorisch war eine an der Hofwand montierte Stange zum Ausklopfen von Teppichen. Es gehörte damals zu den Ritualen des Vormittags dazu, dass in den Höfen die Klopfgeräusche von emsigen Hausfrauen zu hören waren, die ihre Teppiche von Staub befreiten. Teppichreinigungsfirmen gab es noch nicht. Die Teppichklopfer wurden zuweilen auch als pädagogisches Instrument der Körperstrafe bemüht. Auch in der Schule gehörten Ohrfeigen, Kopfnüsse und der Einsatz des Rohrstocks zu Strafaktionen der Lehrerinnen und Lehrer. In den Höfen war es zuweilen auch ein Ereignis, wenn ein Drehorgelspieler auftauchte und nach der Darbietung seines musikalischen Sortiments (damals gängige Melodien) mit einem heruntergeworfenen, in Zeitungspapier verpackten Groschen belohnt wurde.
Die kriegsbedingte Mangelwirtschaft hatte unter anderem die Knappheit an Qualitätsschuhwerk zur Folge. Kinder entwuchsen, wie heute auch, gerade angepasster Fußbekleidung im Nu. Wir Kinder wurden dank der Schuhhandlung Schnütgen für das Sommerhalbjahr mit „Holzkleppern“ ausgestattet. Diese Sandalen mit schmalen Kunstlederriemen und Holzsohlen mit Knickgelenk waren ein Kriegsprodukt, erzwungen durch den allgemeinen Mangel in der Zivilwirtschaft. Für uns Kinder waren sie indes ein Statussymbol, mit dem man unsere bevorzugte Fortbewegungsart Rennen eindrucksvoll beschallen und „beknallen“ konnte. Sie hielten übrigens nur einen Sommer. Dennoch war den damaligen Eltern einen Sommer lang geholfen. Diese Holzsandalen unterlagen nicht der Rationierung, was bedeutete, dass für sie keine Kleidermarken aufgewendet werden mussten. Und wir Kinder hatten ein toll klingendes Erkennungszeichen, das Klappern bei jedem Schritt. Eine Notlösung? Im Gegenteil! Es machte Spaß.
Zudem fanden manche von uns zunehmend Gefallen an einem neuen Hobby. Einige Väter, die wegen ihres kriegswichtigen Berufseinsatzes nicht zur kämpfenden Truppe an der Front eingezogen waren, unterhielten Aquarien, in denen der Guppy dominierte. Der kleine, der Familie der Zahnkarpfen zugehörige Fisch aus der Karibik, braucht zwar warmes Wasser, war aber ansonsten pflegeleicht und robust. Die Wassertemperatur in einem Wasserglas oben auf der Anrichte der beheizten Küche, dem in der Regel einzig warmen Raum in der Wohnung, genügte ihm. Die Männchen, lebhaft, schlank und bunt, die Weibchen farblich unscheinbar und matronenhaft behäbig, waren sehr vermehrungsfreudig. Da die Eier bis zur Reife im Mutterleib verbleiben, gelten die Guppys als lebendgebärende Fische. Der Nachwuchs ist aber in seiner Winzigkeit sofort von den Eltern als willkommener Happen begehrt, sobald er das Licht der Welt erblickt hat. Deshalb musste stets für hinreichenden Futternachschub gesorgt werden. Daran gab es – zumindest im Sommer – keinen Mangel. Die Nazi-Stadtverwaltung hatte verbreitet Löschwasserbecken eingerichtet und uns Kindern dabei auch den Sedanplatz als Spielfläche genommen. Dort wurde ein großes schwimmbadähnliches Bassin errichtet, ebenso auf dem Blücherplatz. Und überall in den Straßen standen kleinere Betonbecken, in denen es von Mückenlarven und Wasserflöhen nur so wimmelte. Die dadurch verursachte Stechmückenplage kann man sich vorstellen.
Sie hieß Marianne. Sie gehörte zu unserer nachbarschaftlichen Spielgruppe und wir gingen miteinander (so nannte man das, wenn man ein wenig mehr als nur befreundet war). Hand in Hand, bewaffnet mit Kescher und Einmachglas, gingen wir zusammen auf Fischfutterfang. Offen gestanden, die Schmetterlinge im Bauch, verursacht durch ihr Vertrauen und ihre Nähe, waren mir wichtiger als unser reichhaltiges Fangergebnis. Eine kleine Vorahnung auf das, was Glück sein kann…. In ihrem Wohnhaus, Wellritzstraße Nr. 42, gab es eine Hoftüre mit Glasfenster. Sie war als improvisiertes Kaspertheater hervorragend geeignet, indem man auf der Rückseite unter dem Fenster abtauchen und für Zuschauer vor der Türe hinter dem Fenster in einer Art Glasguckkasten mit wilden Grimassen und Gesten Performance treiben konnte. Für Marianne und mich hatte das Abtauchen einen einvernehmlichen Grund: Wir nutzten das Wegducken zum Küssen. Ihr kleiner Bruder, der Spion, betätigte sich als indiskretes Plappermaul: „Die küssen sich!“ Das war das Ende eines frühen Kinderliebesglücks.
Bomben aufs Westend
Etwa ab Mitte des Jahres 1944 war ich nur dann ein einigermaßen ausgeglichener Junge, wenn es aus allen Wolken tratschte. Nur dann war nicht zu befürchten, dass sie kamen. Sie, das waren die Bomberpulks, die bei schönem Wetter in geordneten Fünferformationen silbrig glänzend durch die Bläue des Himmels zogen, begleitet vom tiefen Brummen der viermotorigen, propellerbetrieben Bomber. Häufig konnte man bei Voralarm dieses unheimlich schöne Schauspiel beobachten. Voralarm, mit drei geraden Sirenensignalen hintereinander bekannt gemacht, bedeutete, dass das öffentliche Leben, auch der Straßenverkehr weiterging, aber jeder in Bereitschaft sein musste, bei eventuell nachfolgendem Vollalarm, mit auf- und abschwellenden Heulton gekennzeichnet, eilig den nächsten erreichbaren Luftschutzraum aufzusuchen. Irgendwann im Sommer 1944 erteilte wohl ein Kommandeur in einer der sogenannten fliegenden Festungen an Himmel den Befehl an einen Teil seines Geschwaders, auf den Hauptbahnhof einen gezielten Angriff zu fliegen, wo das öffentliche Leben während eines Voralarms in vollem Gange war. Dieser Angriff kostete viele Todesopfer.
Zuweilen konnte es auch passieren, dass sich eine Bomberbesatzung wegen technischer Probleme ihrer Bombenlast spontan entledigte, um noch einigermaßen heil heim zu kommen. So passierte es auch im Frühjahr oder Sommer 1944 während eines Vollalarms, als das Eckhaus Bismarckring/Wellritzstraße von einem solch erratischen Abwurf getroffen wurde. Eine Mieterin hatte, wie man später erfuhr, ihren Schmuck vergessen und war aus dem Keller noch einmal in ihre Wohnung geeilt um ihn zu holen, als die Sprengbombe in das Haus einschlug und es erheblich beschädigte. Sie wurde von dem Luftdruck der explodierenden Bombe aus dem Fenster ihrer Wohnung im ersten Stock gegen die Hauswand gegenüber geschleudert und zerschmettert. Es dauerte Monate bis der riesige rote „Klecks“ von der Fassade beseitigt wurde. Wir spielten darunter, es waren Kriegszeiten.
Außer solchen Einzelereignissen war Wiesbaden im Gegensatz zur Nachbarstadt Mainz mit ihren kriegswichtigen Industrien weitgehend verschont geblieben. Gegen Ende des Jahres 1944 wurde im verlässlichen Kreis Erwachsener zuweilen geflüstert: „Die Amerikaner werden Wiesbaden verschonen, weil sie sich hier niederlassen wollen.“ Das war prophetisch eine richtige Einschätzung. Schon 1948 wurde die Berliner Luftbrücke von Wiesbaden aus organisiert. Anfang 1945 nutzte das Wiesbaden leider nichts. Es wurde als Angriffsziel nicht ausgespart. Immerhin waren es keine amerikanischen Bomber, die in der Nacht vom 1. auf den 2. Februar 1945 unsere Stadt attackierten. Wir wissen heute, dass die Alliierten im Bombenkrieg arbeitsteilig verfuhren: Tagsüber flog die US Air Force die Angriffe auf deutsche Ziele, nachts kam die Royal Air Force.
Ziemlich exakt um Mitternacht wurden wir von dem auf- und abschwellenden Sirenenheulton aus dem Schlaf gerissen: Vollalarm! Wir schliefen in Unterwäsche, um bei Gefahr schnell komplett angezogen zu sein. Meine Mutter sagte zu mir: „Wir dürfen nicht leichtsinnig sein, komm, beeile dich!“ Zwei Tage zuvor waren wir von einem zweiwöchigen Aufenthalt bei Verwandten in dem tiefverschneiten dörflichen Dombach bei Camberg im Taunus, aus der ländlichen Idylle sozusagen, zurückgekehrt. Jetzt wurde es offenbar ernst. Ein Korb mit Windeln für meinen neun Monate alten Bruder stand stets griffbereit. Wir rannten das spärliche beleuchtete Treppenhaus hinunter, ich voran. Zu meinem Entsetzen stellte ich fest, dass der Luftschutzkeller unseres Wohnhauses in der Wellritzstraße 47 verschlossen war. Diejenigen der Hausgemeinschaft, die dort bei Gefahr gewöhnlich zusammentrafen, waren abwesend.
Meine Mutter hatte es bisher standhaft abgelehnt, bei Alarm einen öffentlichen Luftschutzkeller aufzusuchen. Die Gefahr einer Ansteckung mit dem grassierenden Keuchhusten sei für meinen kleinen Bruder dort zu groß. Meine achtjährige Psyche konnte dieser vernünftigen Haltung nichts abgewinnen. Eine betagte Nachbarin aus dem Nebenhaus hatte mir aus dem Herzen gesprochen: „Mer mecht wie die Leut’, dann geht’s eim wie de Leut’“ („Man verhält sich wie die Leute, dann geht es einem wie den Leuten“). Das Gefühl der scheinbaren Sicherheit inmitten einer menschlichen Ansammlung, mein Herdentrieb also, war mir wichtiger als das „nur“ in der Phantasie bestehende Risiko in einer möglichen Massenhysterie elend unterzugehen.
Inzwischen kamen harte Explosionsschläge, begleitet von grellweißen Lichtblitzen aus Richtung Westendstraße bereits bedrohlich nahe. Kurzentschlossen entschied meine Mutter, die Wellritzstraße mit schnellen Schritten zu überqueren und mit uns zusammen in den öffentlichen Luftschutzkeller der Gewerbeschule (heute Georg-Buch-Haus) „abzutauchen“. Luftschutzhelfer standen am Eingang Wache und ließen uns ein. Der Keller war überfüllt, wir mussten stehen. Der Boden schwankte bei jedem Einschlag. Die dumpfen Schläge, die von draußen hereindrangen, das flackernde Licht, das phasenweise bis auf eine Notbeleuchtung ganz ausfiel, die ganze angstschwängerte Situation ließ auch Erwachsene in ihrem ohnmächtigen Ausgeliefertsein an dieses Geschehen verzagen. Flehentlich wandte sich eine Frau an einen etwa 13 oder 15-Jährigen in der Uniform der Hitlerjugend: „Gell, Bubche, gell Du hilfst mir?“ – „Mei lieb Fraa, ich bin doch aach nit bombesicher“, versetzte er im waschechten Wiesbaden-Idiom trocken und in scheinbar stoischer Gelassenheit. Trotz des Infernos draußen reagierte meine Mutter darüber amüsiert. Sie war mein Fels in dieser Brandung und vermittelte mir Halt und Zuversicht.
Nach einer kleinen Ewigkeit kam die Entwarnung. Draußen war die Luft erfüllt von einem intensiven Geruchsmix nach Brand und Mörtel. Das Haus in der Walramstraße gegenüber der Einmündung Sedanstraße brannte lichterloh. In der vorderen Wellritzstraße und in der oberen Walramstraße an der Einmündung zu Emser Straße gab es riesige Schutthaufen – Volltreffer. Die vierköpfige Bäckerfamilie Spiegel in der oberen Walramstraße hatte geglaubt in ihrer tiefliegenden Mehlkammer sicherer zu sein als im Luftschutzkeller ihres Hauses, der ihr dank vorgesorgter Mauerdurchbrüche einen Fluchtweg geboten hätte. Sie wurde verschüttet. Ihr Klopfen soll noch länger zu hören gewesen sein. Rettungskräfte standen nicht zur Verfügung. Ihre Mehlkammer wurde ihnen zum Grab.
In den von Bombeneinschlägen verschont gebliebenen Häusern waren viele Fensterscheiben durch den Luftdruck der Detonationen zu Bruch gegangen. Abgeschlossene Wohnungstüren hatte die Wucht der Explosionswellen aus dem Schlossfang gerissen. Als Notersatz für das Fensterglas diente ein feinmaschiges Drahtgeflecht, das durch einen milchigen Kunststoff gezogen war und in die leeren Fensterrahmen eingenagelt wurde. Bizella nannte sich der Notbehelf. Der Volltreffer in der oberen Walramstraße, Ecke Emser Straße hatte eine fatale Langzeitfolge. Die Wasserversorgung für den gesamten Wohnbereich einschließlich der Nordzeile der Wellritzstraße war für lange Zeit unterbrochen. Ein Jahr lang schleppte meine Mutter täglich bis zu 14 Eimer Wasser von einer Zapfstelle in der Gewerbeschule gegenüber in unsere Wohnung im dritten Stock der Wellritzstraße 47.
Als die Amis kamen
Im Laufe des März 1945 trat für uns insofern eine gewisse Entspannung ein, da keiner mehr mit einem zweiten großen Bombenangriff rechnete. Die Amerikaner standen bereits auf der anderen Rheinseite. Von dort beschossen sie Wiesbaden und trafen im Westend den Balkon im ersten Stock des Eckhauses an der Schwalbacher Straße und der Wellritzstraße (in dem heute die Firma Günay ihren Handel betreibt).
Alle Kriegsgefahren waren also noch nicht gebannt. Und selbstgemachte kamen noch hinzu: Über Nacht hatten Wehrmachtseinheiten die Gersdorff-Kaserne an der Schiersteiner Straße (nach 1945 „Camp Lindsey“, heute das „Europaviertel“) verlassen, waren also sang- und klanglos abgezogen. Wie aus deren Beständen Kästen voller Kleinkalibermunition (KK) in die Hände Jugendlicher gelangten, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls waren sie plötzlich verfügbar. Die Patronen wurden als Feuerwerksknaller in die Winkel zwischen den Hauswänden und dem Bürgersteig geballert. Wir Kinder machten begeistert mit. Dass die Projektile gefährliche Querschläger sein konnten, war vielen von uns nicht bewusst. Keiner kümmerte sich darum. Eines der mir anvertrauten KK-Geschosse wollte partout nicht losgehen und hatte nach mehreren Versuchen bereits eine völlig deformierte Hülse. Ich klopfte mit einem Stein wild darauf herum. Mit einem Mal rauschte nach einem heftigen Knall das Projektil pfeifend an meinem Ohr vorbei. Glück gehabt! Das hätte auch ins Auge gehen können. Meine Lust an diesem „Waffengang“ war damit schlagartig beendet.
Am 28. März kamen sie, etwa um die Mittagszeit. Eine schier endlos scheinende Fahrzeugkolonne rollte aus Richtung Hauptbahnhof den Bismarckring entlang. Einige GIs saßen auf den Türmen ihrer gepanzerten Fahrzeuge und spielten gegenseitig Fangball mit orangefarbenen „Bällen“, die sie für uns Kinder fallen ließen – die erste Apfelsine in meinem Leben. Dass es ein dunkelhäutiger GI war, der mir zu dieser Erfahrung verhalf, verdoppelte meinen ersten Eindruck. Denn Menschen mit dunkler Hautfarbe hatte ich bis dahin ebenfalls nicht gesehen.
Die Kampftruppen machten schließlich einen etwa einstündigen Halt und besetzten alle Privatwohnungen rings um den Sedanplatz. Die GIs hingen in den geöffneten Fenstern, zündeten eine Zigarette nach der anderen an und ließen sie kurz angeraucht in die Vorgärten fallen. Der so demonstrierte Überfluss verfehlte seine Wirkung nicht, zumal die Zigaretten im Vergleich zur deutschen Kriegsware ellenlang waren. Bald waren die Vorgärten mit Pall Mall-Kippen im Kingsize-Format dicht übersät. Sobald die Fronttruppen abgezogen waren, wurden sie die Beute begehrlicher Raucher, für die der Spitzname „Kippenstecher“ gebräuchlich war.
Die Begegnung zwischen uns Kindern und den später endgültig hier stationierten GIs war trotz des anfänglichen Fraternisierungsverbots der Army von Freundlichkeit bestimmt. Das Bettelverdikt meiner Mutter schlug ich in den Wind. Meiner Frage in Pidgin-Englisch „häv ju scheffingumm“ verdankte ich so manchen Erfolg mit Peppermint-Geschmack.
Der Sommer 1945 brachte zwar die Befreiung von der Angst vor Bomben. Auch die Möglichkeit, wieder ohne Vorsicht seine Meinung frei äußern zu können, war ein Gewinn an Lebensqualität. Dennoch wurde schon bald klar, dass diese neuen Zeiten auch neue Probleme mit sich brachten. Die Versorgungslage hatte sich spürbar verschlechtert. Es wäre ungerechtfertigt von einer Hungersnot zu sprechen, zumal wir hier im Westen mit der amerikanischen Besatzungsmacht ohnehin im Vergleich zu anderen Regionen ein besseres Los gezogen hatten. Aber die Verknappung der Nahrungsmittel vermittelte mir dennoch eine Ahnung davon, was Hunger bedeutet, denn Heranwachsende sind bei ihrem Aufbau-Bedarf bekannt dafür, dass „Klimmzüge am Brotkorb“ zu ihren täglichen Übungen zählen. Da machte ich keine Ausnahme.
Eine eiserne Reserve stand uns immerhin zur Verfügung: Es war damals üblich, im Herbst für den gesamten Winter im Voraus Kartoffeln einzukellern. Heute kauft man bei Bedarf einen Pack von fünf oder zehn Kilogramm der Erdäpfel im Supermarkt. Die damalige Einkellerung wurde nach Kopfzahl der Familienmitglieder berechnet und die Kartoffeln zentnerweise eingelagert. Die Anlieferung erfolgte per Pferdefuhrwerk. Dieser Vorrat hatte eine gewisse Schutzfunktion, zumal die Kartoffel zu den wenigen Lebensmitteln zählt, bei der man auch bei einseitiger Ernährung mit dieser Knolle keine ernsten Mangelerkrankungen davonträgt.
Wie prekär die Lage dennoch war, zeigt dieses Beispiel: Unsere ländlichen Verwandten hatten uns ein Säckchen Hafer geschenkt. Nach Hörensagen war uns bekannt geworden, dass es in Hahn (heute ein Ortsteil von Taunusstein) eine Mühle gäbe, die diesen Hafer in Haferflocken tauschen würde. Da ein öffentlicher Personennahverkehr nicht existierte waren wir auf Schusters Rappen angewiesen. Meine Mutter und ich wanderten mit unserem Säckchen Richtung „Eiserne Hand“ über den Taunuskamm zu dieser Mühle und bekamen dort in der Tat den Hafer eingetauscht. Aber zu meiner Enttäuschung handelte es sich beim Tauschgut nicht um Haferflocken, sondern um ungereinigten Quetschhafer, der von den Spelzen nicht befreit war. Der damit zubereitete ‚Haferbrei‘ schmeckte streng und grob. Es kostete Überwindung ihn zu essen, zumal es unumgänglich war, die ungenießbaren Spelzen spuckend auszusortieren. Es war ein sehr schwacher Trost von meiner Mutter zu hören, dass Hafer Pferde stark mache.
Großer Mangel herrschte an frischem Gemüse und Salaten. Das ländliche Umfeld unserer Nachbarstadt Mainz hatte solches zu bieten. Aber Mainz gehörte inzwischen zur französischen Besatzungszone und war ohne Passierschein für Erwachsene nicht erreichbar. Anders wir Buben. Wir wurden an der Zonengrenze durchgelassen. In der Endphase des Krieges war von deutscher Seite die Straßenbrücke zwischen Kastel und Mainz gesprengt worden. Die Pioniere der Alliierten hatten sehr schnell eine hölzerne Behelfsbrücke als Ersatz errichtet, über die der Verkehr abgewickelt wurde.
„Bewaffnet“ mit einem Rucksack in Gesellschaft von einigen Schulkameraden machte ich mich auf „Hamsterfahrt“. Mit der Straßenbahn der Linie 6 fuhren wir bis zum Kasteler Brückenkopf. Da die Holzbrücke über keine Schienentrasse verfügte, ging es zu Fuß rüber zur anderen Seite und dort mit der „Elektrischen“ weiter nach Mainz-Gonsenheim. Bei Erfolg mit Möhren, Zwiebeln, Rosenkohl und anderen Gemüsesorten beladen konnte ich zuweilen meine Rückenlast kaum bewältigen. Aber es gab auch erfolglose Fahrten. Die beste Tauschwährung wären bei den Gonsenheimer Bauern amerikanische Zigaretten gewesen. Aber die hatte ich nicht. Ein Erlebnis ist mir unvergesslich geblieben: Nach einer erfolgreichen Hamsterfahrt, die ich allein unternommen hatte, stand ab dem Wiesbadener Hauptbahnhof kein Bus zur Verfügung. Ich hätte meine Last zu Fuß bis in die Wellritzstraße schleppen müssen. Ein junger Mann erbarmte sich und nahm sie mir ab. Er war groß und stark und ich bangte während des langen Fußwegs in gespannter Ängstlichkeit um meine Schätze. Wie sich herausstellte war er ein Redlicher, der mir selbstlos die Last bis nach Hause transportierte – ein Menschenfreund in harter Zeit.
Als nach einer etwa dreivierteljährigen Pause der Schulbetrieb wieder losging, war die tägliche Schulspeisung eine große Hilfe. Jede Schülerin und jeder Schüler hatte einen „Henkelmann“ im Gepäck und erhielt täglich in der Pause einen Schlag Eintopf mit der Schöpfkelle aus großen Thermobehältern. Gelegentliche „Fresspakete“ der US-Hilfsorganisation CARE und von einer sorgenden Tante auf Long Island im Bundesstaat New York boten ebenfalls Erleichterung. Allerdings faszinierten mich die darin zu findenden bunten Verpackungen und Dosen (zum Beispiel der Firma Maxwell) mindestens genau so sehr wie deren Inhalte. Diese farbigen „Wunder“ waren die grelle Gegenwelt zu dem höchstens in Zeitungspapier eingewickelten grauen Mangel, mit dem wir unsere bisherige Kriegsexistenz verbracht hatten.
Erst ganz allmählich begann sich das Alltagsleben zu normalisieren. Mit dem Wegfall der Rationierung der Versorgungsgüter zählte nur noch das Geld, spätestens ab dem 20. Juni 1948 allzumal, als die Währungsreform in der sogenannten Trizone (amerikanische, britische und französische Besatzungszonen zusammengefasst) in Kraft trat und ab dem 21. Juni 1948 dort die Deutsche Mark („DM“, auch „D-Mark“) in Ablösung der alten Rentenmark (RM) als alleiniges gesetzliches Zahlungsmittel zugelassen war.
Die Geschäftswelt in der Wellritzstraße
Von der einschränkenden Kriegswirtschaft einmal abgesehen war das Branchenangebot trotz der Lebensmittelrationierung von breiter Vielfalt gekennzeichnet. Es gab zwei Drogerien, eine Apotheke, zwei Geschäfte für Sämereien, ein kleines Schuhgeschäft und die Firma Melchior, die unter anderem Essbestecke im Angebot hatte. Ferner existierten dort zwei Schreibwarengeschäfte, die auch Zeitschriften und Illustrierte offerierten, zwei Gemüsehändler und der Kohlenhändler Storck, der für den Heizbedarf im Winter besonders wichtig war. Eine Firma, die Kurzwaren anbot, ein Blumengeschäft und sogar ein kleines Geschäft für Damenwäsche und Dessous rundeten das Spektrum der Branchenvielfalt ab. Die Inhaberin der Schuhreparaturwerksatt Poths hatte den Ruf eine aggressiv bekennende Nationalsozialistin zu sein. Vor ihr nahm man sich in Acht. Ein Damen- und Herrensalon in der hinteren Wellritzstraße hatte lebhaften Zulauf. Sein Inhaber Peter Schade warb, wie damals in dieser Branche üblich, mit einem polierten silbern blitzenden „Baderteller“, der über dem Geschäftseingang hing. Es gab auch ein Fischgeschäft, dessen Inhaber den Familiennamen Fleisch führte. Die in unregelmäßigen Abständen zugeteilten Salzheringe erfüllten während ihrer Wässerung unsere Wohnung zwar mit intensivem Fischgeruch. In Mangelzeiten waren sie als Delikatesse dennoch hochwillkommen.
Nach 1945 etablierte sich in der hinteren Wellritzstraße ein aufstrebender Mittelstandsbetrieb: die Firma Ofen-Möser, die die erste Generation der heute sogenannten Weißware unter die Leute brachte. Auch meine Familie erwarb dort auf der Basis von Ratenzahlungen den ersten elektrisch betriebenen Kühlschrank. In der Nähe der Firma Ofen-Möser residierte nach dem Krieg für viele Jahre auch der Teppichhandel Steinbauer. Überlebt aus dieser Zeit haben bis heute ein Tabak- und Zeitschriftenhandel in der hinteren Wellritzstraße, deren äußeres Erscheinungsbild sich kaum verändert hat. Ebenso der Spezialist „Angel-Schäfer“ in der vorderen Wellritzstraße, der 2013 nach 107 Geschäftsjahren aufgegeben und von einem Juwelier abgelöst wurde. Und nicht zu vergessen – in seiner direkten Nachbarschaft die Szenekneipe „Bumerang“. Sie war in den fünfzig Jahren ihrer Existenz nicht nur für viele Stammgäste ein magischer Anziehungspunkt. Sie war, insbesondere dank Seelentrösterin Sylvi, vor allem für Singles eine Art Wohnzimmer und Sozialstation.[1]
Aus meiner Kinderzeit ist mir der Seniorchef der Gemüse- und Kartoffelfirma Wirth erinnerlich, der hinter seinen Kartoffelsteigen in langer blauer Schürze lauthals dagegen protestierte, dass Nassau und damit auch Wiesbaden 1866 von Preußen annektiert wurde. Über historische Kenntnisse verfügte ich damals noch nicht. Aber ich registrierte die dezent zurückhaltende Erheiterung der Kunden über diese anachronistische Entrüstung. Auch der „Boulevard“ kam in der damaligen Geschäftswelt der Wellritzstraße nicht zu kurz. In einem Gemüsehandel an der Ecke Wellritz- und Helenenstraße vollzog sich ein vor aller Welt offen ausgetragenes Ehedrama: Eine junge Verkäuferin avancierte zur Favoritin des Firmenchefs, der in den Sommermonaten vorzugsweise in bayerischen Krachledernen auftrat. Die Alteingesessene ließ sich aber scheinbar unbeeindruckt von ihrer dominanten Wächterrolle an der Kasse nicht verdrängen – Gesprächsstoff für das „Dorf Wellritzstraße“. Und dass ein früh verwitweter Metzger seinem Sohn die Braut ausspannte, die vom vorhandenen Vermögen womöglich mehr beeindruckt war als vom Jungspund – auch das war natürlich ein „dankbarer“ Gesprächsstoff. Wie man sieht – die Geschäftswelt der Wellritzstraße war auch damals voller Lebendigkeit, dem Krieg und dem Mangel zum Trotz.
Leider ist diese gewachsene Branchenvielfalt weitgehend verloren gegangen. Heute dominieren und konkurrieren in der Wellritzstraße Herrensalons, gastronomische Unternehmen, Lebensmittelgeschäfte und Juweliere. Im Frühjahr 2021 wurde der Abschnitt zwischen Helenen- und Hellmundstraße zu einer Fußgängerzone umgewidmet. Es ist zu hoffen, dass dieser Wandel neue Belebung mit sich bringen wird.
[1] Der Kultkneipe in der Wellritzstraße 18, die 2010 nach einem halben Jahrhundert Dauerbetrieb ihren Abschied feierte, setzten Thomas und Mathias Lawetzky mit „Sylvis Bumerang“ (2016) ein filmisches Denkmal. Der Film versammelt Anekdoten und Erinnerungen der Wirtin Sylvi sowie zahlreicher Stammgäste in einer Dokumentarcollage.