Jaleo im Westend.
Wie der Flamenco nach Wiesbaden kam
Jaleo im Westend.
Wie der Flamenco nach Wiesbaden kam
Was verbindet Teppiche, Taekwondo und Tänze mit spanischem Flair? Diese Hinterhofgeschichte beleuchtet den Lebensweg einer Frau, die mit ihrer Flamenco-Tanzschule in der Blücherstraße 20 eine Nische geschaffen hat. Seit über 25 Jahren bietet Jaleo Flamenco-Unterricht für Tanzbegeisterte im äußeren Westend an.
Irena Kesic.
Das Wiesbadener Westend. Bunt. Vielfältig. Multikulturell. Wohnung an Wohnung, Gewerbe an Gewerbe. Deutsche und Migrant*innen. Viele Menschen, wenig Platz. Vegane Cafés, türkische Restaurants, polnischer Lebensmittelladen, Bio-Shops. Mittendrin: JALEO. Menschenmassen tummeln sich am Blücherplatz. Trotz Corona: kein Abstand, keine Masken (Mapping-Feldnotiz 2020).
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befinden sich eine Nettofiliale, ein Bäcker und ein Studentenwohnheim. Ein offenes Tor bricht den Fassadenfluss. Es lädt ein nach Spanien.
Temperament. Rhythmus. Musik. Was steckt dahinter? Um das herauszufinden muss zunächst der Hinterhof überquert werden. Er dient als Zugang. Übersichtlich und verhältnismäßig klein. Weiße Farbe markiert drei Flächen. Blechabstellraum. An der linken und rechten Hauswand reihen sich Abfalltonnen. Gelb. Schwarz. Blau. Wenig Grün, viel Licht. Einst weiße Fassaden erscheinen mittlerweile in einem dezenten Grau. Ringsum viel quadratisches Glas. Darin reflektiert, die Nachbar:innen. Eine kleine Treppe führt hin. Neonorange hilft auf: bitte festhalten. Wohin geht es?
Zurück zur Jahrtausendwende. Hier beginnt Jaleos Geschichte in der Blücherstraße 20. Doch wer oder was ist Jaleo? Zunächst steht dahinter eine Person, die in Chile geboren wurde, in Peru aufwuchs und Deutschland als ihre Heimat betrachtet. Eine Frau namens Gaby Herzog (Interview Herzog 2020).
Nach einem abgebrochenem Querflötenstudium in Köln und der darauffolgenden Suche nach einer Freizeitbeschäftigung kommt sie in Berührung mit dem Tanz. Mit einem nicht sehr weit verbreiteten Tanz. Es handelt sich um Flamenco[1]. Sie findet Gefallen an der aus Spanien stammenden Tanzrichtung. Von ,,echten“ Spaniern kriegt sie jedoch zu hören: ,,Das können nur echte Spanier‘‘ (Interview Herzog 2020). Ein wenig irritiert, dennoch entschlossen weiterzumachen, eröffnet sie 1993 ihre erste eigene Tanzschule in Taunusstein-Wehen. Die laute Musik und die unüberhörbaren Tanzschritte sorgen jedoch für Nachbarschaftskonflikte: zu viel Lärm, zu viel Unruhe. Weiteren Unterricht verbietet der Hausbesitzer kurzerhand. Also muss Jaleo weiterziehen (Interview Herzog 2020).
Auf der Suche nach geeigneten Räumlichkeiten kommt Gaby Herzog 1995 mit ihrer Tanzschule im äußeren Westend an. Mundpropaganda erleichterte ihr den Ortswechsel. Es schwingt und dröhnt im Keller des einstigen Ballettstudios DanceLine. Stoff fliegt durch den Raum. Der Boden hält kräftige Schrittfolgen und gibt deren Laute weiter. Haltung. Abfolge. Instrumente. Flamenco nimmt fünf Jahre lang das Untergeschoss ein. Ein Stockwerk darüber hingegen wird Ballett unter der Leitung von Ramón Rivera getanzt. Sachte Töne, grazile Bewegungen, leichtes Tüll. DanceLine übernahm 1993 die Räumlichkeiten, die zuvor neun Jahre lang von einer Kampfsportschule für Taekwondo genutzt worden waren. Die Kampfsportschule besteht heute unter dem Namen TAEKWON-DO Black Belt Center Wiesbaden unter der Leitung von Ralf Peter in der Albrecht-Dürer-Straße 4a immer noch. Eigenhändig verwandelte dieser die einstige Betonwüste in den bis heute erhaltenen Schwingboden, der sich gut für Tänze aller Art anbietet (Interview Peter 2021a, 2021b). Seit 1984 also werden die Räume der Blücherstraße 20 von Bewegungskünstlern genutzt. Ein gemeinschaftlicher Gestaltungsort von Freizeit, Bewegung, Rhythmus und Form. Gehen wir zwei Schritte vor und einen zurück, denn das einstige Innere der heutigen Räumlichkeiten weist eine andere Vorgeschichte auf (Interview Herzog 2020).
Diese Vorgeschichte beinhaltet Farben, Fäden und Nähmaschinen. Meterware reiht sich an Meterware. Bodenbeläge aller Art. Fußabstreicher, Türvorleger, Läufer. An den Decken der Obergeschosswohnung sind Steckdosen befestigt, Kabel hängen herab. Der Hauseingang erinnert an einen Empfangsraum. Rechts ein kleines Fenster. Eine Fabrik? Eher ein Kleinunternehmen für Teppiche aller Art. Das Fenster gehörte zum Pförtnerhäuschen. Der Keller, in dem sich nun der zweite Tanzraum der Flamencotanzschule befindet, diente als Lagerraum für die Teppiche. Über eine Treppe transportierte man sie nach oben ins Erdgeschoss, wo sich die Verkaufsfläche befand. Das heutige Büro von Jaleo soll einst die Telefonzentrale von Teppich-Dietz[2] gewesen sein (Interview Herzog 2020).
Heute nutzt Gaby Herzog die Räumlichkeiten für ihre Tanzschule. Unterrichtet wird neben Flamenco auch ein damit verbundenes Instrument. Es ist klein, besteht aus Holz und kann vielfältig genutzt werden. 2016 wurde sie Konzertmeisterin für Kastagnetten und erlangte damit die Befugnis anderen das Instrument beizubringen. Außer der Herstellung von Lauten und Melodien sind Kastagnetten auch für therapeutische Zwecke geeignet, um beispielsweise die Motorik von Fingern und Händen zu mobilisieren. Doch es bleibt nicht beim Unterricht. Ganze Konzerte lassen sich aufführen. Erlernen können es Klein und Groß (Interview Herzog 2020; Jaleo 2021b). Dasselbe gilt für die diversen Tanzangebote bei Jaleo.
Seit ungefähr zehn Jahren unterrichtet Gaby Herzog gemeinsam mit anderen Dozentinnen auch Tanzrichtungen wie Hip-Hop, Contemporary und Ballett. Eines fällt auf: Dominiert werden die Kurse von Frauen. Lediglich drei erwachsene Männer tanzen beim Flamenco mit. Der Rest: Frauenpower. Jaleo, eine Nische für Westendler*innen zum Ausbruch aus dem Alltag?
Mit „Nische“ kann vieles gemeint sein: Im biologischen Sinne eine Rolle, die ein Organismus in einem Ökosystem einnimmt, die bekannte Küchennische als Speisekammer oder aber auch soziale Nischen, in denen Menschen mit gleichen Interessen zusammenkommen. In diesem Sinn ist Jaleo eine Nische, da an diesem Orte Gleichgesinnte – Tanzbegeisterte – zusammenkommen und den Raum mit Leben füllen. Nischen durchlaufen Veränderung und Aneignung, sie befinden sich in einem ständigen Prozess. Sie sind Orte und Räume voller Dynamik (Roth 2021). So wie Jaleo.
Flugbegleiterinnen der Lufthansa beispielsweise, aufgrund der Pandemie in Kurzarbeit, fanden im Tanzen und im Ort einen Ausgleich. Mehr noch. Jaleo fungiert nicht nur als ein Ort des Zusammenfindens, um gemeinsam zu tanzen. Hier werden Freundschaften geschlossen und Beziehungen aufgebaut. Schülerinnen, die einst selbst Unterricht genossen, sind heute Jaleo-Dozentinnen. Eine Flugbegleiterin sagt, sie habe drei Familien: ihre eigene, ihre Lufthansa-Familie und schließlich die Jaleo-Familie. Der Tanzboden wird zum sozialen Parkett, auf dem sich Menschen unterschiedlicher Herkunft begegnen und im Tanz eine gemeinsame Sprache finden. Vor allem aber ist Jaleo ein Ort der regionalen Nachbarschaft. Manche der Dozentinnen leben im Westend, andere stammen aus anderen Teilen Wiesbadens oder aus Mainz. Wie sieht es da bei den Kursteilnehmer*innen aus? Viele derjenigen, die sich für einen Tanzkurs bei Jaleo angemeldet haben, kommen aus dem Westend. Allerdings gäbe es niemanden aus dem inneren Westend. Mainzer und Frankfurter Kursteilnehmer*innen gäbe es ebenfalls. Wer bereits in den Anfängen der Tanzschule in Taunusstein mittanzte, sei Jaleo auch in Wiesbaden erhalten geblieben (Interview Herzog 2020). Die Tanzschule bleibt in Bewegung. Manches muss zwangsweise verändert werden.
Einfluss habe dabei auch die Coronapandemie gehabt. In Pandemiezeiten sind die Stunden nämlich immer wieder von Auszeiten unterbrochen. Man lüftet ordentlich und nutzt den Hinterhof als Pausenraum. Wenn es nach Gaby Herzog ginge, würde sie den Hof am liebsten dem spanischen Flair anpassen. Mit Blumentöpfen an den Wänden, die den Zugang zur Tanzschule und damit den Hinterhof mit Geranien schmücken. Als störend empfunden werden die Abfalleimer, die zudem gewaltig stinken. Für Aufführungen oder Tanzstunden im Freien kommt der Hof schon deshalb nicht in Frage. Auf eines kann und will man jedoch nicht verzichten: die Parkplätze im Hinterhof. Dass es innerhalb Wiesbadens ein gewisses Parkproblem gibt ist kein Geheimnis. Wie gut, dass nach 20 Uhr auch der dritte Parkplatz des im Vorderhaus befindlichen Backshops für die Tanzlehrerinnen und Kursteilnehmer*innen genutzt werden kann (Interview Herzog 2020).
Der Hinterhof der Blücherstraße 20 ist somit vor allem ein Durchgangs- oder Zwischenraum (Fendt 2011, 165), den alle Ankommenden auf dem Weg zur Tanzschule passieren. Er verbindet dabei aber nicht nur Haus und Zufahrt, Vorder- und Hinterhaus, sondern auch Alltag und Freizeit sowie Privat- und Tanzfamilie. Wer hier ankommt, findet in der architektonischen Nische der Schwingboden-Kellerräume einen (sozialen) Raum konkreter Gemeinschaft im Rhythmus des Tanzens und zugleich einen (physischen) Ort, an dem die Vielfalt der Lebenswelten im Wiesbadener Westend zur Aufführung kommt. Was erzählt Flamenco über das Westend?
Flamenco ist keine Tanzrichtung, bei der man nach einer gewissen Zeit alle Möglichkeiten von Tanzschritten und nutzbaren Requisiten erlernt hat und abschließen kann. Die Fülle an unterschiedlichen Stilrichtungen, Rhythmen sowie Umsetzungs- und Vorführvariationen begleitet Interessierte länger. Auch nach zwanzig oder dreißig Jahren gäbe es für Gaby Herzog beim Flamenco noch viel zu erlernen, allein schon durch die Einbindung von Accessoires: Fächer, Tücher, Stöcke, Kastagnetten oder Hüte (Interview Herzog 2020). All das bleibt nicht im Inneren verborgen. Kunst lebt davon gesehen und gehört zu werden. Gleichermaßen schillernd und schwer zu begreifen ist auch das Westend.
Eine engere Zusammenarbeit bei Veranstaltungen besteht mit dem Verein KUBIS (Kultur, Bildung, Sozialmanagement e.V.) in der Wellritzstraße. Auch mit einer Stepptanzschule gab es kooperative Zusammenschlüsse bei Aufführungen. Für manche ist Jaleo eine Existenzbasis, die wirtschaftlichen Spielregeln folgt. Die Pflege der Tanzschulwebsite und der Social-Media-Kanäle, die Organisation von Teilnehmer*innen und Dozentinnen, alles muss gemanagt werden. Auch die Pandemie und die damit verbundenen Maßnahmen bringen die Tanzschule nicht ins Stocken. Innovativ finden sich andere Wege des Tanzens, wie etwa bei Online-Tanzstunden über Zoom (Interview Herzog 2020).
Nicht zuletzt aber ist Jaleo für viele ein Lebensmittelpunkt im äußeren Westend. Die Tanzschule bietet Kindern und Jugendlichen alternative Freizeitgestaltungsmöglichkeiten sowie einen Ort der Begegnung und des Miteinanders. Um mit dem Soziologen Ray Oldenburg zu argumentieren, ist Jaleo ein Third Place, ein dritter Ort, auch zweite Heimat oder Zweitfamilie genannt. Das heißt, dass Jaleo aufgrund seiner offenen Zugänglichkeit als ein Treffpunkt fungiert, der verschiedene Bevölkerungsschichten anspricht, Konversation und Abwechslung bietet sowie Gemeinschaft stiftet; all das in gesellig-lockerer Stimmung (Oldenburg 1989, 42).
Auch verkörpert Jaleo die Interkulturalität des Westends, und das nicht nur hinsichtlich der Tanzschule und ihrer Arbeit. Interkulturalität meint das Aufeinandertreffen kultureller Unterschiede, die sich gegenseitig beeinflussen und dadurch zu wechselseitigen Verstehungsprozessen beitragen, welche wiederum kulturelles Miteinander ermöglichen (vgl. IKUD 2021).
Schon der Wortsinn von „Jaleo“ im Spanischen beschreibt den Stadtteil ziemlich passend: Radau, Laut, Olé (Interview Herzog 2020). Das Westend steht nicht still, ist aktiv und bunt. Laut ist manchmal auch die Kritik am Stadtteil und seinen Anwohner*innen, doch das Westend stellt Tag für Tag unter Beweis, wie ein Miteinander funktionieren kann. Davon handelt auch die Geschichte von Jaleo und Gaby Herzog. Auf der Suche nach einem Ankommen in einem einst fremden Land fand sie als Kind einer chilenischen Mutter und eines deutschen Vaters im Westend vor 25 Jahren ihre eigene Nische. Seitdem bietet sie mit der Tanzschule selbst eine Nische für andere Westendler*innen, Tanzbegeisterte und Hobbysuchende.
[1] Weiterführende Informationen zur Tanzrichtung Flamenco siehe Pohren 1990, 37–96 und Jaleo 2021.
[2] Vermutlich ist das einstige Teppichgeschäft in der Blücherstraße 20 unter dem Namen Dietz jenes gewesen, das bis 1999 in der Schiersteinerstraße 68 seine Verkaufsflächen hatte. Danach verlieren sich aufgrund von Gewerbeschließung die Spuren des Teppichhauses. Wie lange und ab wann Teppich-Dietz in der Blücherstraße 20 bestanden haben soll, konnte nicht in Erfahrung gebracht werden (Interview HÖCO 2021; Interview Teppich-Dietz 2021).
Literatur
Fendt, Martina (2011). Zwischenräume. In: Löw, Martina & Terizakis, Georgios (Hg.). Städte und ihre Eigenlogik. Ein Handbuch für Stadtplanung und Stadtentwicklung (163–182). Frankfurt a.M.: Campus.
IKUD (2021). Multikulturalität, Interkulturalität, Transkulturalität und Plurikulturalität. https://www.ikud.de/glossar/multikulturalitaet-interkulturalitaet-transkul-turalitaet-und-plurikulturalitaet.html [21.02.2021].
Jaleo (2021a). Über Flamenco. https://www.flamenco-wiesbaden.de/flamenco-kurse-in-wiesbaden/ [20.03.2021]
Jaleo (2021b). Kastagnetten. https://www.flamenco-wiesbaden.de/kastagnetten-in-wiesbaden/ [20.03.2021]
Oldenburg, Ray (1989). The Great Good Place. Cafés, Coffee Shops, Bookstores, Bars, Hair Salons, and other Hangouts at the Heart Community. New York: Marlowe.
Pohren, Donn E. (1990). The Art of Flamenco. Madrid: Soc. of Spanish Studies.
Roth, Jonathan (2021). Urbane Nischen. Kulturanalytische Perspektiven auf den Hinterhof. In: Ders. (Hg.). Urbane Nischen. Ethnographische Erkundungen in den Hinterhöfen des Wiesbadener Westends. Mainz.
Quellen
Interview Herzog (2020). Interview mit Gaby Herzog, online geführt am 23.10.2020 von Irena Kesic in Rüsselsheim.
Interview HÖCO (2021). Telefoninterview mit HÖCO-Elektromarkt (seit 1999 in der Schiersteinerstraße 68 in Wiesbaden), geführt am 22.03.2021 von Irena Kesic in Rüsselsheim.
Interview Peter (2021a). Telefoninterview mit Ralf Peter, geführt am 21.02.2021 von Irena Kesic in Rüsselsheim.
Interview Peter (2021b). Telefoninterview mit Ralf Peter, geführt am 22.03.2021 von Irena Kesic in Rüsselsheim.
Interview Teppich-Dietz (2021). Telefoninterview mit Teppich-Dietz-Neu-Isenburg, geführt am 22.03.2021 von Irena Kesic in Rüsselsheim.
Projekt ,,Urbane Nischen“. Feldnotizen zur Station „Mapping“ vom 23.06.2020 in Wiesbaden.