Das Biotop im Hinterhof –
Ein Starenschwarm im Westend.
Das Biotop im Hinterhof –
Ein Starenschwarm im Westend.
Wie an eine Szene aus Alfred Hitchcocks Film „Die Vögel“ fühlte man sich erinnert, wenn man im letzten Winter im Wiesbadener Westend in der Abenddämmerung gen Himmel blickte: Ein Schwarm von mehreren Hundert Staren zog seine Kreise über dem Viertel, schloss sich mit anderen kleineren Schwärmen zusammen, steigerte in enger Formation sein Flugtempo und stieß schließlich wie eine schwarze Wolke mit Highspeed hinab. Das Ziel: ein mit Efeu überwuchertes Hinterhaus in dem die Vögel
übernachteten. Ein Naturschauspiel, keine Frage, doch neben der Faszination für die tierischen Mitbewohner kam für die Anwohner:innen auch der Ärger über ihre stinkenden Hinterlassenschaften. Ein Beitrag über eine etwas ungewöhnliche Nische in einem Wiesbadener Hinterhof.
Julia Dreja
Der große Gebäudekomplex aus rotem Backstein im äußeren Westend, auch Feldherrenviertel genannt, besteht aus drei Teilen: dem Vorderhaus, einer größeren Halle als Seitenbau und dem Hinterhaus. Erbaut wurden die Gebäude vermutlich im Jahr 1905. Während das Vorderhaus dauerhaft bewohnt ist, wurde das Hinterhaus im Zweiten Weltkrieg von einer Brandbombe getroffen und steht seitdem leer. Die Fassade des halbverfallenen Hinterhauses ist wie eine grüne Wand mit Efeu bewachsen, welches vermutlich in den 1980er Jahren gepflanzt wurde. Bodo E., langjähriger Hausbewohner und ehemaliger Hausverwalter, erinnert sich: „Seit ich hier wohne ist das Hinterhaus unbewohnt. Die Fassade ist noch intakt, aber das Innere des Hauses ist nicht mehr begehbar, lediglich die Trägerbalken sind noch vorhanden.“ Verantwortlich für das Grün sei vermutlich sein Schwiegervater: „Als mein Schwiegervater vor rund 40 Jahren den Hof gepflastert hat, wurde damals wahrscheinlich auch das Efeu gepflanzt.“
Auch ich wohne im Vorderhaus dieses Gebäudekomplexes und liebe den Blick aus meinem Küchenfenster auf die efeubewachsene Vorderfront des Hinterhauses. Ich beobachte Insekten, die die Blätterwand umschwirren, Vögel, die unter dem dichten Grün ein Zuhause gefunden haben und ein Eichhörnchen, das von Zeit zu Zeit durch das Dickicht turnt. Auch für meine Nachbar:innen ist der grüne Dschungel wichtig für die Lebensqualität in unserem Haus. Er vermittelt ein Gefühl von Natur mitten im dichtbebauten Westend. Doch schöne Orte erfreuen sich auch großer Beliebtheit, so ist das Efeu unseres Hinterhauses offenbar auch sehr attraktiv für eine Vielzahl von Staren.
Neue Mitbewohner:innen
Im Winter vor rund acht Jahren tauchten die Vögel zum ersten Mal auf, um im dichten Blätterwerk unserer Efeuwand zu nächtigen. Sie flogen mit lautem Gezwitscher in der Abenddämmerung ein und verließen ihren Schlafplatz mit nicht minder viel Lärm am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang. Alle Bewohner:innen des Hauses waren fasziniert von dem Schauspiel und nach einigen Recherchen stellte sich heraus, dass es sich bei den Vögeln um Stare handelte. Nach fast sechs Wochen war der Spuk vorbei und die Tauben, Insekten und Eichhörnchen sowie alle anderen Bewohner:innen der umliegenden Häuser hatten das Efeuidylle wieder für sich.
An Weihnachten 2019 kamen die kleinen Vögel wieder und blieben dieses Mal mehrere Monate bis ins nächste Frühjahr. Auch dieser Besuch sollte nicht der letzte gewesen sein, denn von Ende November 2020 bis etwa Mitte April 2021 war das efeubewachsene Haus im engen Hinterhof erneut Schlafstätte der Stare. Den mehrmaligen Besuchen der gefiederten Gäste stehen die Bewohner:innen des Vorderhauses, aber auch die Anwohner:innen in den umliegenden Gebäuden mittlerweile mit gemischten Gefühlen gegenüber. Während die einen weiterhin fasziniert sind von dem Naturspektakel und vorwiegend den Schutz der Vögel im Sinn haben, leiden vor allem die direkten Anwohner:innen unter der starken Verschmutzung durch die Hinterlassenschaften:
„Mittlerweile ist es einfach eine Plage geworden, denn es sind rund 1000 Stare, die hier übernachten. Mich stört es nicht so sehr, dass sie ins Efeu fliegen, aber die Hinterlassenschaften der Stare sind nicht mehr zu ertragen, der Hof ist mittlerweile zentimeterdick mit Exkrementen bedeckt. Ich muss jeden Tag meinen Balkon saubermachen, da er kein Dach hat. Die Autos, die im Umkreis parken sind außerdem über und über mit dem Vogelkot bedeckt. Ich parke mein Auto schon extra weiter weg, damit ich es nicht mehr täglich saubermachen muss.“
So schildert Bodo E. seine Erfahrungen mit der Situation. Patricia Kremer, Mitarbeiterin der unteren Naturschutzbehörde im städtischen Umweltamt, kennt das gemischtes Meinungsbild der Wiesbadener Bürger:innen. Auch wenn viele Menschen den Tierschutz an erster Stelle sehen und sich an dem Naturschauspiel erfreuen, seien die Anwohner:innen doch stark von dem Vogelkot und den Gerüchen betroffen. Vor allem die, die für die Reinigung der Hinterlassenschaften der Vögel zuständig sind. Und wenn ein Schwarm von mehr als 1000 Tieren über mehrere Monate täglich in einer rund fünfzehn Quadratmeter großen Efeuwand übernachtet, kann man sich den Grad der Verschmutzung und den dazugehörigen Geruch vorstellen.
Eine Folge der Klimaerwärmung?
Ja – das sagt Patricia Kremer von der Wiesbadener Naturschutzbehörde. Der Star, ein Zugvogel, der eigentlich in Abhängigkeit von der Witterung gen Süden zieht, überwintert inzwischen immer häufiger vollständig in Wiesbaden: „In den letzten fünf bis sechs Jahren haben wir beobachtet, dass die Stare nicht mehr weitergezogen sind“, erklärt sie die Situation. Das gelte zwar nicht für alle Individuen oder Teilschwärme, aber der überwiegende Teil der Tiere fliege nicht mehr weiter. Bei sinkenden Temperaturen schlossen sie sich früher zu größeren Schwarmverbänden zusammen, was ihnen Schutz bei der Reise in den Süden bot. Während der Brutzeit im Frühling lösen sich die Schwärme wieder auf, um in Höhlen in alten Bäumen oder marodem Mauerwerk die Brut zu beginnen. Nun würden aber Beobachtungen zeigen, dass die Wiesbadener Stare über das ganze Jahr bleiben und den Winter in der Innenstadt, unter anderem in der Adolfsallee, den Reisinger Anlagen oder in unserem Hinterhof im Westend verbringen. Diese Problematik und die extremen Verschmutzungen fände man sonst auch in Rom oder in anderen italienischen Städten.
Natürlich stellt sich die Frage, warum die Stare so plötzlich in der Wiesbadener Innenstadt aufgetaucht sind. Kremer sieht die geografisch günstige Lage Wiesbadens am Taunushang, die Nähe zum Rhein und gute Futtergebiete für die Vögel in der Umgebung als Ursache. Auch sei die Innenstadt immer einige Grad wärmer als das Umland und in dem Hinterhof im Westend sei es natürlich auch nochmal geschützter als in den städtischen Parkanlagen. Zwar sei Wiesbaden bisher die einzige Stadt in der Umgebung, wo dieses Phänomen zu beobachten sei, doch Kremer vermutet, dass die Situation auch bald aus anderen Städten bekannt würde.
Vergrämungsmaßnahmen
Da die Verschmutzung des Hinterhofes und der Umgebung ein beträchtliches Maß angenommen hatte, baten meine Nachbarn:innen und ich das Wiesbadener Umweltamt um Unterstützung. An einem Spielplatz in der Adolfsallee konnten die Mitarbeiter:innen der städtischen Behörde bereits Erfahrungen mit der Vertreibung der Vögel sammeln und boten uns leihweise ihre Vergrämungsanlage an. Mittels der akustischen Anlage, die abwechselnd Raubvogelschreie und Alarmrufe der Stare abspielte, sollten die Vögel vertrieben werden. Leider ohne Erfolg. Keine Überraschung für Patricia Kremer: „Die Stare sind hochintelligent, reagieren und gewöhnen sich schnell an andere Umstände.“
Lediglich die Vergrämung mithilfe eines Feuerwerkers führte in der Adolfsallee zum gewünschten Erfolg. In dem Moment, in dem der Schwarm zum Landeanflug ansetzte, wurden die Tiere durch einen lauten Knall von der Landung abgehalten. Dies sei ungefährlich für die Vögel und es wurde dabei darauf geachtet, dass kein Star getötet oder beunruhigt wurde: „Die Vögel sind sehr schnell abgedreht, flogen oben ein paar Runden und haben sich dann direkt in den Reisinger Anlagen niedergelassen“, so Kremer. Dennoch sei ihr bewusst, dass es nicht zu einer dauerhaften Vertreibung der Vögel in ihren natürlichen Lebensraum kommen würde, sondern lediglich zu einer Verlagerung des Problems. Dies sei auch bei der Vergrämung in der Adolfsallee geschehen, denn die Stare hätten sich neue Schlafplätze in der Innenstadt gesucht.
Mit den steigenden Temperaturen im Frühling dieses Jahres verschwanden die Stare nach und nach. Ob sie im nächsten Winter wiederkommen, bleibt abzuwarten. Da es sich hier nicht um ein öffentliches Gelände handelt, ist nicht die Stadt für die Vertreibung der Vögel zuständig, sondern der Eigentümer der Gebäude. Einerseits ist im Hinterhof kein besonderer Schutz erforderlich, wie für die Kinder, die auf dem Spielplatz in der Adolfsallee spielen, andererseits gibt es keine eindeutigen Untersuchungen darüber, ob der Kot der Stare gesundheitsgefährdend ist. Auch Patricia Kremer kann nach einer Ortsbegehung den Handlungsbedarf nachvollziehen und hält eine genaue Überprüfung der Situation für erforderlich. Denn unser Hinterhof im Wiesbadener Westend ist für mehr als 1000 Vögel eindeutig zu klein. So sehen das auch die Anwohner:innen. Trotz des Ärgers bleibt es eindrucksvoll festzustellen, wie die Stare ihren Lebensraum in der Stadt einfordern und sich den veränderten Gegebenheiten scheinbar mühelos anpassen.
Literatur
Hessische Gesellschaft für Ornithologie und Naturschutz e.V. (HGON):
https://www.hgon.de/fileadmin/HGONContent/01-HGON/Arbeitskreise/Rheingau-Taunus_und_Wiesbaden/JB_AK-WI-RTK_2018-2019.pdf
Quellen
Interview Egersdörfer (2021). Interview mit Bodo Egersdörfer, Anwohner, am 01.03.21 geführt von Julia Dreja.
Interview Egersdörfer (2021). Interview mit Patricia Kremer, Umweltamt Wiesbaden, am 08.03.21 geführt von Julia Dreja.