Bismarckring 31
Bismarckring 31
Gudrun Marie Schecker
Anekdoten aus 50 Jahren
1970–1983 und ab 2018
1969: auf der Suche nach einer ersten gemeinsamen Wohnung* hatten wir uns bewusst auf das äußere Westend konzentriert. Die Gründe weiß ich nicht mehr. Mein Verlobter schloss den Mietvertrag ab, mit der Auflage, dass wir heiraten, sobald ich zu ihm ziehen will. Schließlich gab es noch den „Kuppelparagraph“ und der Verwalter legte Wert auf ein „ehrenwertes Haus“ (Udo Jürgens). Also heirateten wir kurz nach meinem 21.Geburtstag (ein paar Mal hatte ich aber heimlich übernachtet)
1970: Bülowstr. 3, Vierter Stock.
Eigentlich bestand diese Wohnung unter dem Dach (99 Stufen) aus 3 kleinen Mansarden, die durch einen Miniflur verbunden waren, „hintenraus“. Ein weiteres, sehr helles Zimmer ohne Schräge war gegenüber, zur Straße hin, als Atelier für mich gedacht, aber zunehmend ein Abstell- und Partyraum (Polterabend). Die Toilette auf dem Hausflur teilten wir uns mit einer alten Dame, die auf der anderen Seite des Treppenhauses ihre Zimmer hatte. Bei uns gab es ein Schlafzimmer, in das nur 1 Schrank und 1 Bett passte (also schliefen wir im Doppelstockbett!) . Es gab aber ein Waschbecken (Kaltwasser) – aber keine Heizmöglichkeit, denn in den Schornstein war ein Schränkchen gebaut worden. Im Winter hatten wir sehr schöne Eisblumen.
Der 2.Raum neben dem 1qm Flur war die Wohnküche mit der Spüle unter der Dachschräge, so dass nur 1 Person dort stehen konnte. Der sonstige Platz reichte für 1 Herd, 1 Kühlschrank (später) und ein Klapptisch mit 2 Barhockern. Wandregal für Geschirr.
Der 3.Raum schloss sich an, dort war ein funktionierender Ölofen. Mit Bücherregal,1 Schreibsekretär, 1 Couchtisch und 2 „Farmersesseln“ war der Raum voll. Auf den Hinterhof sahen wir durch das einzige „richtige“, rechteckige Fenster im Giebel, unter uns saß meistens eine Katze auf dem Balkon. Ansonsten 1 Tanne, Dächer mit vielen Antennen und Brandmauern. Kein Grün.
Mein Mann stieg öfters aufs Dach, um die Rundumsicht zu genießen und zu fotografieren (schönes Silvesterfeuerwerk). In den Hof gingen wir nur, wenn wir Müll runterbrachten, außer der Tanne war dort nichts zu sehen, alles grau in grau, aber peinlich sauber (dafür sorgte der Prototyp eines Hausmeisters, der sogar einmal die Sitzbank aus unserem Citroën 2CV entfernte, als wir sie im Vorkeller abgestellt hatten).
Als im Parterre eine große Wohnung frei wurde, zog dort eine WG ein, eine der ersten in Wiesbaden (die Welle war von Frankfurt herübergeschwappt). Ein Pärchen davon studierte wie ich an der WKS (Wilhelm-Knapp-Schule) Wiesbaden – war inzwischen der Kuppelparagraph gefallen? Jedenfalls waren zu dieser Zeit die großen 5–6-Zimmerwohnungen schwer vermittelbar, die Mietpreise generell hoch und nach 1968 lockerten sich die Sitten doch ganz allmählich.
Im Winter hatte mein Mann oft Schwierigkeiten, den alten 2CV morgens in Gang zu kriegen, aber man konnte ihn noch mittels einer Kurbel anwerfen; das machte so viel Lärm, dass die Nachbarn aus dem Fenster „Ruhe“ brüllten. Das Bülowplätzchen war noch beidseitig eine Straße. Am anderen Ende (Zietenring) sollte die große Platane dem Straßenausbau geopfert werden, das haben wir
(JUSOS im Stadtparlament) erfolgreich verhindert.
1972: Scharnhorststr. 9
Nach zwei kalten Wintern zogen wir aus, in die Scharnhorstr.9. Dort war es sehr komfortabel: 1. Stock, 2 Balkone, Toilette innen und Badewanne (in der Schlafzimmernische). Das Schlafzimmer war ein langer Schlauch, wieder konnten wir die Betten nur hintereinanderstellen. In der Küche gab es ein Regal in einem Türrahmen, dahinter verbarg sich ein 2.Treppenhaus, der Dienstbotenaufgang (müsste vom Hof noch zu sehen sein, falls das Haus nicht komplett saniert wurde. Die Haupttreppe war aus Holz und musste jede Woche mit Spirituslack gestrichen werden!
Der Hof auch hier kahl, aber gegenüber im Hinterhaus bestückte ein Nachbar alle Fenster mit Tomatenpflanzen, für die er die Erde aus dem Wald holte (Geheimtipp!).
Unter uns wohnte ein altes, rüstiges Ehepaar, das bei jeder Begegnung betonte, es müsse täglich mit seinem Ableben rechnen. Deshalb war es für sie auch besonders schlimm, als wir einen Wasserschaden verursachten, weil sich der Waschmaschinenschlauch, der von der Küche durch die Wand in die Badewanne führte, gelöst hatte und den Boden flutete…
Über uns wohnte eine ältere alleinstehende Frau, die sich vom Fenster oder Balkon in den Tod stürzte. Im Hof lag dann noch ihre Brille…ich mochte lange nicht mehr hinunterschauen oder -gehen.
In unsere direkte Nachbarwohnung zog ein junges iranisches Ehepaar, was zu dieser Zeit selbst im Westend noch „exotisch“ war. Aber Mitte der 70er Jahre kamen immer mehr Emigranten/Exilsuchende, etwa ab 1973 nach dem Umsturz in Chile.
Als wir Nachwuchs erwarteten, suchten wir eine größere Wohnung mit Zentralheizung, Bad und geräumigem Schlafzimmer. Erst im 8. Monat wurden wir fündig und der Umzug sollte in der Zeit stattfinden, als ich mit Baby in der „Frauenklinik“ (Bahnholz) war. Leider hat der Spediteur den Termin vermasselt und so verbrachte unsere Tochter noch eine einzige Nacht in der Scharnhorststr. 9.
1976: Bismarckring 6
Unsere Familienwohnung war richtig groß, in Fläche und Höhe (3.80m). Unter uns im Haus das Ladengeschäft der Firma Dittmann & Storath , deren Installationswerkstatt im Hof –
auf dem Flachdach befand sich unsere Terasse, ca.20qm. Das war das Schönste an der an sich schon schönen Wohnung. Da draußen hat unsere Tochter die ersten Lebensmonate verbracht, im „Jahrhundertsommer“ 1976… Wenn man nicht die 2 hinteren Zimmer durchkreuzen wollte, konnte man den 9 m langen Flur benutzen, eine ideale „Straße“ zum Dreiradfahren. Es war hier „hintenraus“ auch gar nicht trist, gegenüber ein riesiger Kastanienbaum, in den anderen Höfen (Rückfront der Dotzheimerstrasse) auch Bäume. Bei uns im Hof eine junge Rosskastanie und einige Büsche, so dass man vom Küchenfenster den Jahreszeitenwechsel beobachten konnte. Schräg gegenüber (Ecke Dotzheimer/Dreiweidenstraße) hatte die freireligiöse (methodistische) Gemeinde ihren Sitz,- manchmal im Sommer hörte man etwas vom Gesang/Musik aus den hohen Kirchenfenstern.
Unser Vermieter (Teil der Erbengemeinschaft), ein ehemaliger Kirchenmusiker, spielte in der Parterrewohnung selbst auf seiner großen Orgel, die Fenster waren mit farbigen Glasscheiben versehen – „Künstler sind andere Menschen“ pflegte seine Frau zu sagen…
Im Nachbarhaus rechts gab es eine Pizzeria, der Inhaber war Chef des italienischen Fußballclubs. Bei der WM brauchten wir kein Radio – der Jubel war im ganzen Block zu hören und vorne auf dem Bismarckring fuhren die Autocorsos – nicht ohne beim Nachbarn zu stoppen und zuzuprosten. Die Speisekarte konnten wir ab 17 Uhr erschnuppern…
Links, Hausnummer.4, ein recht vornehmes Bekleidungsgeschäft, mit großen Schaufenstern. Der
Inhaberfamilie gehörte das Haus und sie haben es später verkauft. An der Ecke Dotzheimerstraße befand sich der legendäre Feinkostladen von Webers, auch ein Familienbetrieb, die Oma war schon sehr alt und bediente immer noch die anspruchsvolle Kundschaft. Über der Tür hingen Fasanen in vollem Federschmuck, die Lieferanten waren Jäger rund herum im Taunus und der Laden für seine Wildspezialitäten bekannt. Auch Obst und Gemüse aus Südeuropa gab es hier im Winter. Das habe ich vor allem während meiner 2.Schwangerschaft zu schätzen gewusst, als ich „tomatensüchtig“ war…
Auf der gegenüberliegenden Ecke des Bismarckrings dann die auffällige Drogerie „Kräutersepp“ der Familie Machenheimer, hier konnte man noch alles lose kaufen, von Kräuterteemischungen bis zum Weingeist, Gärballons in verschiedenen Größen und passende Stöpsel oder Korken und vieles mehr. Ich liebte den Geruch und den Anblick der vollgestopften Regale. Als ich für unseren Sohn öfters Babyartikel einkaufte, stellte sich heraus, dass er am gleichen Tag wie der Besitzer Geburtstag hatte. Von da an gab es immer ein kleines Geschenk. Vom Balkon im 1.oder 2.Stock blickten öfters 2 Afghanenhunde runter zur Strasse. Unten im Haus befand sich auch eine berüchtigte Kneipe „off limits“, die sich zum Motorradrockertreff entwickelte. Eines Nachts wurde dort eine Razzia durchgeführt, ringsherum deutsche + amerikanische Polizei, auch in unserem Hauseingang.
Zurück zum Familienleben in Hausnummer 6: Wie damals üblich, durften Kinder in den Hinterhöfen nicht spielen – der Platz wurde fast überall von Mülltonnen/Containern dominiert (bei uns allerdings nicht ungefährlicher: Transport von langen Installationsrohren). Kein Ort, an dem man sich freiwillig aufhalten wollte. Fahrradfahren war zu dieser Zeit noch ein reines Freizeitvergnügen, logischerweise gab es kaum Fahrradständer. Teppichklopfstangen wurden im Teppichbodenzeitalter nicht mehr gebraucht (das war bis in die 50er Jahre ein beliebtes Turngerät). Meistens gab es auch Schilder, dass Spielen und Abstellen von … verboten ist. Also besuchten sich die Kinder gegenseitig in den geräumigen Altbauwohnungen.
Einmal, im Sommer, besuchte unsere Tochter (5/6 Jahre alt) eine Freundin im Eckhaus Dotzheimerstraße. Ich werkelte in der Küche – da standen die Mädels plötzlich vor mir! Sie berichteten stolz, dass sie über Werkstattdächer und Brandmauern auf unsere Terrasse geklettert und so in die Wohnung gekommen waren. Mir blieb das Herz stehen…
Ein paar Jahre vorher musste ich selbst einen ähnlichen Weg nehmen: Ich wollte nur den Müll runterbringen und wurde von der Kleinen ausgesperrt – das Spiel mit der Türkette war zu reizvoll gewesen. Also musste ich trotz Höhenangst vom Hof über eine Werkstattleiter auf die Terrasse im 1.Stock klettern, während in der Wohnung mein schreiendes Kleinkind an der verschlossenen Tür verzweifelte. Und unser Sohn, knapp 3-jährig, beschloss, mir morgens zum Bäcker zu folgen, mit Schlafanzug und Gummistiefeln, während Papa und Schwester noch vor sich hindösten. Zum Glück wurde er „aufgegriffen“ von einer Studentin, die am Abend vorher mit Kommilitonen bei uns zu Besuch war (Semesterabschluß). Die Nachbarschaft im Naus war recht gut, mehrere junge Familien und einige alteingesessene, bzw.im Haus altgewordene Bewohner, darunter ein Künstler, der so viel ich mich erinnere, unten ein Atelier hatte. Mit seiner sehr jungen Frau kam dann nochmal Babyzuwachs ins Haus, wir Eltern halfen uns alle gegenseitig beim Babysitten des insgesamt 8-köpfigen Nachwuchses. Ich empfinde diese Wohnung immer noch als Oase mitten in der engen Bebauung des 1. Rings. Dieser war allerdings so stark befahren, dass wir den kleinen Balkon „vorneraus“ nur Sonntag morgens vor 10 Uhr öffnen konnten. Der Lärm drang durch die einfachverglasten hohen Fenster (eine Änderung hätte zu viel Geld gekostet, u.a. wegen Denkmalschutz). Die Busampel vor dem Haus trug mit dazu bei. Alle zwei Wochen sah man schwarze Auspuffablagerungen auf dem Fensterbrett, wenn man einen Gegenstand wegnahm, der dort aufgestellt war.
Da von unten (Laden) nicht geheizt wurde, waren die Zimmer fußkalt. Die 3,80m. Raumhöhe speicherte die Wärme oben. Die Kinder waren häufig krank, vor allem schwere Bronchitis – zumal die Wege draußen erstmal durch Autokolonnen führten, egal in welcher Richtung. Parkplätze Mangelware, eine Großeinkaufstour brauchte zusätzlich 30-45 Minuten zur Parkplatzsuche. All dies zusammen, einschließlich der Mieterhöhungen ließ in meinem Mann den Wunsch nach einem Eigenheim im Grünen immer stärker werden- so dass wir das Westend und Wiesbaden im Jahr 1983 schließlich verließen. Ich hatte noch jahrelang Heimweh, trotz der schönen Natur im Taunus.
2017/18: Scharnhorststr.38 im GARTENHAUS
Dazu habe ich meine Vermieterin befragt, deren Großvater das Haus gebaut oder gekauft hat. Der Teil, in dem meine Wohnung ist, heißt wirklich im Grundbuch „Gartenhaus“, es soll wohl da sehr grün gewesen sein ;zumal der Hof nicht gepflastert war (Sand?). Da gab es auch eine Ziege (die „Kuh des armen Mannes“). Im Vorderhaus wohnte der Betriebsinhaber der (Kunst-)Schlosserei mit seiner großen Familie, die Werkstätte befand sich im „Hinterhaus“ und dort waren auch die Wohnräume für die Gesellen („um wenig Weg zu haben“). Neben der Spenglerei hatte auch ein Weißbinder seine Werkstatt. Zu den Kunden gehörte ein renommiertes Bestattungsunternehmen, so dass auch
einmal ein Zinksarg für die Überführung nach Russland hergestellt wurde. Das Firmenschild Nistler habe ich nichtsahnend in den 70ern fotografiert, weil es mir so gut gefiel.
Im 1. Stock hatte vorher ein ehemaliger Mitarbeiter der Theaterwerkstatt gewohnt, der seine Erfahrungen auch in die kleine 2 Zimmerwohnung übertrug. Bei der Sanierung wurden künstliche Portale, Säulen und Kapitelle entfernt. Eine Freundin hatte Interesse an der Wohnung gezeigt, daher konnten wir sie besichtigen. Die Toilette/Dusche war, wie in alten Zeiten noch auf dem Hausflur. Soviel ich weiß ist an diesem Haus viel verändert worden, zusätzliche Balkone nach hinten, ehemalige Werkstatträume umgebaut usw. Soweit ich sehe ist es das schmalste Haus in der Straße, jeweils 1 Wohnung auf der Etage. Im Vorderhaus kenne ich auch jetzt, nach fast 3 Jahren niemanden, außer dem jungen deutsch-iranischen Ehepaar, dessen Balkon mir gegenüber in unmittelbarer Nähe ist, so dass uns „über den Hof“ unterhalten können. Auch sie haben sich mit vielen Pflanzen umgeben, sitzen und essen im Sommer draußen, genau wie ich.
Wenn ich auf dem Treppenabsatz draußen vor meinem Eingang sitze, komme ich mir vor wie eine Concierge in Paris. Über mir wohnt ein polnisches Ehepaar, daneben ein junger Mann aus Afghanistan, darüber ein älterer Mann aus der Türkei, im 2.Stock ein Mann mittleren Alters vom Balkan, daneben bis vor kurzem ein farbiger Amerikaner mit philippinischer Gattin, neuerdings eine jüngere Polin mit Tochter.
Ich habe aber auch noch den Vorteil des hinteren Hofes, der durch den Hausflur, in dem auch die Waschmaschinen stehen, erreichbar ist. Dort ist es sehr schattig, was aber in den letzten heißen Sommern sehr erholsam war, zumal die Mauern (noch) mit Efeu, Clematis und wildem Wein berankt sind. In den schmalen Hochbeeten versuche ich ein paar Blühpflanzen zu ziehen. Also wieder eine ähnliche Oase wie im Bismarckring 6 und dazu fern vom Straßenlärm.
Nachwort
Nach vielen Veränderungen bin ich überraschenderweise nach 35 Jahren „auswärts“ wieder im Westend gelandet. Vieles hat sich positiv verändert: Fassaden sind großenteils restauriert, Balkone, Häuser und Baumscheiben begrünt – nahezu überall spielen Kinder, sitzen Leute zusammen, stehen Fahrräder in den Höfen. Der Wellritzpark ist ein neues Naherholungshighlight, vor allem für junge Familien. Dagegen ist der Elsässer Platz nach wie vor ein Schandfleck, noch nicht mal mehr für Jahrmarkt und Zirkus genutzt (Anfang der 70er hatten wir uns schon für eine Verbesserung eingesetzt). Unangenehm sind mir die vielen Hundehaufen und Müllablagerungen aufgefallen.
„Früher“ herrschte in den Hinterhöfen eine gewisse Stille, unterbrochen nur von den Geräuschen der Handwerkerbetriebe. Die Familien blieben „unter sich“, nur wenige wollten auffallen. Auch die Balkone wurden kaum genutzt. Aber schon in den 70erJahren entwickelte sich eine neue „Szene“, zumal immer mehr Wohnungen/Zimmer an Studenten vermietet wurden, vor allem nachdem die FH neue
Räume am Kurt-Schumacher-Ring bezogen hatte.
Erste Auswirkungen der Ökobewegung führten zu Bioläden, die „Haselnuss“ eröffnete, als wir gerade im Umzugsstress waren. Der großen Anti-Startbahn-West-Demo hatten wir vom Balkon im Bismarckring zugewinkt, mit bunten Luftballons geschmückt – im Visier des „unauffällig“ begleitenden
Verfassungsschutzes. Von der Ringkirche läuteten die Glocken, dank des progressiven Pfarrers (sein Vorgänger hatte mich noch wegen der Nicht-Taufe unserer Tochter beschimpft, als ich ihn für Omas Beerdigung bestellte). Mitgehen wollte ich mit Baby nicht, aber wenigstens Solidarität zeigen.
Alles in allem war nach 1968 eine positive Aufbruchsstimmung entstanden, die sich allmählich auf viele Bereiche auswirkte und das Alltagsleben liberalisierte. Unsere politischen Aktivitäten hatten wir nach der Geburt unserer Kinder weitgehend eingestellt, bzw. auf gelegentliche Aktionen begrenzt; mein Mann war im Bergkirchengebiet beruflich sehr engagiert, ich im Kindererziehungsbereich und in meiner Arbeit als Schulbuchillustratorin (zuerst Gesellschaftslehre, später eigene Ausmalposter und danach Bildergeschichten im Auftrag). Zwischen 1985 und 2015 habe ich die Entwicklung des Viertels nicht mehr so mitbekommen, da auch die befreundeten Nachbarn nach und nach weggezogen waren.
Erst als meine Tochter mit ihrer Familie in den Zietenring zog, merkte ich, wie sehr mir dieser Stadtteil immer noch gefällt, und ich bin froh, nun wieder hier zu wohnen, auch wenn ich – obwohl gebürtige Wiesbadenerin – keineswegs eine „Rückkehr“ angestrebt hatte. Da es aber hier (noch) kein betreutes Wohnen/Seniorenwohnheim gibt, wird es wohl doch nicht mein letzter Wohnsitz sein…